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Religion und Krieg

Ein Gastbeitrag von Dr. Horst Gorski für die Uruguayisch-Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik. Horst Gorski ist Theologe und Publizist.

Dr. Horst Gorski
Dr. Horst Gorski. Quelle: Dr. Horst Gorski

 

»Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.« Diesen prägnanten Satz hat die Vollversammlung des neu gegründeten Ökumenischen Rates der Kirchen auf ihrer 1. Sitzung in Amsterdam 1948 formuliert. Die Delegierten standen unter dem Eindruck der verheerenden Gräuel des Zweiten Weltkrieges. Ihnen war intuitiv klar: Das darf sich nicht wiederholen. Das kann nicht Gottes Wille sein. Die Erklärung fährt fort: »Krieg als Methode zur Beilegung von Konflikten ist unvereinbar mit den Lehren und dem Beispiel unseres Herrn Jesus Christus. Die Rolle, die der Krieg im heutigen internationalen Leben spielt, ist Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen.« 

Es wäre schön, wenn mit dieser Klarstellung alles zum Thema gesagt wäre. Doch das ist leider nicht so. Im Gegenteil. Durch die gesamte Menschheitsgeschichte bis heute waren religiöse Motive starke Antriebskräfte für das Führen von Kriegen. Oft waren es Mischungen aus rein religiösen Motiven und ethnischen, kulturellen oder geostrategischen Interessen. Manchmal wurden Religionen auch einfach nur missbraucht, um Kriege zu rechtfertigen. Trotzdem, schlimm genug, dass dies möglich war. Schlimm genug, dass Religionen, auch die christliche Religion, hierfür Anknüpfungsmöglichkeiten bieten und dass religiöse Führer dies immer wieder befeuert haben. 

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1. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam, Niederlande, 1948. Foto: ÖRK-Archiv

 

Der deutsche Theologe Friedrich-Wilhelm Graf hat 2008 in einem Vortrag sehr pointiert gesagt: »Religion ist der gefährlichste mentale Stoff, den wir haben.« Damit meint er: Bei der Religion geht es ums Ganze, um unsere Existenz, um Wahrheit. Wer davon überzeugt ist, dass seine Religion wahr ist, der wird dazu neigen, andere Religionen abzuwerten und, im schlimmsten Fall, die Angehörigen anderer Religionen zu bekämpfen. Eine Formulierung aus dem Augsburgischen Bekenntnis der reformatorischen Kirchen von 1530, ein Christ dürfe »rechte Kriege« führen, ist bis in die Gegenwart falsch übersetzt worden als »gerechte Kriege«, obwohl der ursprüngliche Sinn »rechtmäßige Kriege« bedeutete. Diese falsch verstandene Formulierung wurde zum Teil sogar zum »heiligen Krieg« hochstilisiert. 

Der christliche Glaube hat — jedenfalls in seiner von der europäischen Aufklärung geprägten Form — einen weiten Weg der »Zivilisierung« hinter sich. Eine Zäsur bildete der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), der weite Teile Mitteleuropas verwüstete. Schätzungen belaufen sich auf drei bis neun Millionen Tote, bei 15-20 Millionen Einwohnern in den betroffenen Ländern. Die Wirtschaft wurde in Mitleidenschaft gezogen, insbesondere die Landwirtschaft lag brach, da die Felder durch Kriegshandlungen und vorüberziehende Heere geplündert und kaputt getrampelt wurden. Auch bei diesem Krieg mischten sich religiöse, bzw. konfessionelle Motive zwischen den katholischen und den protestantischen Ländern mit geostrategischen Machtinteressen. Geistesgeschichtlich hatte der Dreißigjährige Krieg zur Folge, dass in der Frühaufklärung erste Toleranzgedanken aufkamen. Da die Pluralität von konkurrierenden Konfessionen zum Krieg als Dauerzustand geführt hatte, suchte man nach Auswegen. Eine Lösung bot sich mit dem Naturrechtsgedanken an, also mit der Annahme, dass es jenseits und hinter allen Religionen und Konfessionen ein natürliches Recht gebe, das allen Menschen gemeinsam sei und das die Wahrheiten der einzelnen Religionen relativierte. 

Gute 100 Jahre nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, nämlich 1779, veröffentlichte Gotthold Ephraim Lessing sein Theaterstück »Nathan der Weise«. Darin geht es um den Wahrheitsanspruch der drei damals in Europa existierenden Religion: Judentum, Christentum und Islam. Auf die Frage, welcher Wahrheitsanspruch der echte sei, erzählt der jüdische Gelehrte Nathan ein Gleichnis, die sog. Ringparabel. Ein Mann hatte einen Ring, der den, der ihn trägt, »vor Gott und den Menschen angenehm machte«, wenn er ihn »in dieser Zuversicht« trüge. Mehrere Generationen wird der Ring an den jeweiligen Lieblingssohn vererbt. Doch eines Tages hat einer der Nachfahren drei Söhne, die er gleichermaßen liebt. Also lässt er zwei Duplikate anfertigen. Im Laufe der nächsten Generationen weiß niemand mehr, welches der echte Ring ist. Drei Brüder geraten darüber in Streit und gehen zu einem Richter. Der sagt, dass man nicht wissen könne, welches der echte Ring sei. Vielleicht sei er verloren gegangen, vielleicht sei schon der ursprüngliche Ring, von dem die Duplikate angefertigt wurden, nicht mehr der echte gewesen. Wenn aber die Wirkung des Ringes sei, vor Gott und den Menschen angenehm zu machen, dann sollten sich alle drei bemühen, so zu handeln, dass sich die Echtheit ihres Ringes erweise. 

Hier wird nicht nur der absolute Wahrheitsanspruch der Religionen in Frage gestellt; Religion wird zugleich transformiert zu einer ethischen Haltung, die das Gute im Menschen hervorbringen soll. Diese Seite des Christentums entwickelte sich in Europa immer stärker. Das Christentum wurde zu einem Mittel der Aufklärung, die Erziehung des Menschengeschlechts zum Besseren zu bewirken. Das hat nicht verhindert, dass auch das Christentum für kriegerische Zwecke missbraucht wurde. Der Satz »Gott mit uns« stand im Ersten Weltkrieg auf den Gürtelschnallen der Soldatenuniformen. Aber gesellschaftlich wurde aus dem Christentum eine Religion zur »seelischen Erhebung«, wie man früher sagte, also zur Erbauung des Gemüts und zur Besserung der Menschen. 

Diese »Zivilisierung« der christlichen Religion ist einerseits zu begrüßen; andererseits geht damit eine Abkühlung des Glaubens einher. Das Herz brennt kaum noch für den Glauben, man steht ihm eher wie einer nützlichen Kulturerscheinung gegenüber. Ob man in einen Gottesdienst oder in ein Konzert geht, wird austauschbar. Tolerante Religion ist in den Augen vieler Zeitgenossen nur denkbar als »verdünnte« Religion, ohne echte Überzeugung. Das halte ich für ein Missverständnis. Es gibt, jedenfalls behaupte ich dies für das Christentum, einen Glauben, der von seiner Wahrheit überzeugt ist und der gerade von dieser Wahrheit her tolerant ist. Wenn nämlich das Evangelium von Jesus Christus im Kern Liebe ist, dann kann die Überzeugung von dieser einzigartigen Wahrheit gar nicht anders, als auch Andersdenkende und Andersglaubende zu lieben. Wie es sich mit anderen Religionen verhält, dazu will ich mich nicht äußern. Sowohl der Islam als auch der Hinduismus haben heute eine politisch-gewalttätige Seite. Allerdings ist dies nicht der ganze Islam, nicht der ganze Hinduismus. Es ist wichtig, dies zur Verständigung festzuhalten. Im Übrigen sollte jeder über seine eigene religiöse Tradition nachdenken und nicht über andere richten. 

Die Erklärung der 1. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen fährt fort: »Es mag sein, dass man auf Mittel der Gewalt nicht verzichten kann, wenn das Recht zur Geltung gebracht werden soll. Aber ist der Krieg erst einmal ausgebrochen, dann wird Gewalt in einem Ausmaß angewandt, das die Grundlage des Rechts zu zerstören droht.« Diese Sätze sind höchst aktuell. 60, 70 Jahre lang hat in Deutschland die Friedensbewegung für eine Welt ohne Waffengewalt geworben, in der das Recht herrscht. Die evangelischen Kirchen in Deutschland waren an dieser Friedensbewegung intensiv beteiligt. Vielleicht wurde manchmal zu sehr eurozentrisch gedacht. Denn Kriege gab es auf der Welt seit 1945 ununterbrochen. Nur in Mitteleuropa lebten wir in Frieden, glaubten uns von friedlichen Nachbarn umgeben und dachten, eine Welt ohne Kriege sei möglich. Seit dem 24. Februar 2022 ist diese Zuversicht der harten Realität gewichen, dass die Sicherheitsarchitektur in Europa akut gefährdet, wenn nicht sogar in der bisherigen Form zerbrochen ist. Russland ist als Aggressor in die Ukraine eingefallen und hat alle Hoffnung auf eine Herrschaft des Rechts (vorläufig) zunichte gemacht. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält bei der 11 Vollversammlung der Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe eine Ansprache. Quelle: Tom Weller.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält bei der 11. Vollversammlung der Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe eine Ansprache. Quelle: Tom Weller.

 

Für die evangelischen Kirchen in Deutschland bedeutet dies, sich neu zu besinnen. Natürlich darf das Ziel einer friedlichen Welt nicht aus den Augen verloren werden. Aber die drei kleinen Wörter »es mag sein« aus der Erklärung des ÖRK beherrschen im Augenblick die Lage. Es mag sein, dass Putin ohne Waffen nicht zu stoppen ist. Von christlicher Seite bleibt aber der Auftrag, die Waffen nicht das letzte Wort haben zu lassen. Denn trotz und gerade wegen der Gewalt an vielen Orten auf der Welt, muss dieser Satz immer wieder in Erinnerung gerufen werden: »Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.«

Disclaimer: Der Artikel spiegelt die Meinung des Autors wider.