Seinen Rücktritt schließt er aus. Allerdings droht seinem Land ein innenpolitisches Chaos als Konsequenz der vorgezogenen Parlamentswahlen, die Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron durch die Auflösung der Nationalversammlung im Zuge der desaströsen Ergebnisse für seine Bewegung bei den Europawahlen im Juni 2024 ausgerufen hat. Die neugebildete Minderheitsregierung befindet sich politisch auf einer schmalen Gratwanderung, denn die Opposition aus Links- und Rechtsaußen kann sie im Falle eines Schulterschlusses jederzeit zu Fall bringen.
Riskantes Spiel oder strategisches Kalkül?
Es ist das erste Mal in fast 30 Jahren, dass ein französischer Präsident zu dem Mittel greift, die Nationalversammlung aufzulösen. Die Meinungen über das Warum gehen auseinander. Sicher ist jedoch, dass das Ergebnis der diesjährigen Europawahlen für das Präsidentenlager mit der im Europa-Parlament vertretenen Fraktion Renew rund um Macrons Partei Renaissance (RE), dt. »Wiedergeburt«, verheerend war, denn die Wahlen am 09. Juni 2024 endeten mit einem eindeutigen Ergebnis
von mehr als 31% für Marine Le Pens Partei Rassemblement National (RN), dt. »Nationale Sammelbewegung«, (bis 2019 Front National, FN, dt. »Nationale Front«) und damit eine Wähler-Orientierung an den rechten Rand des Parteienspektrums.
Der RN ist Teil der am 08. Juli 2024 neu formierten Fraktion Patrioten für Europa (PfE), gruppiert um Victor Orbáns Partei Fidesz-Ungarischer Bürgerbund, bestehend aus EU-skeptischen, nationalistischen und rechtsextremen Parteien, die unter Führung des RN-Vorsitzenden Jordan Bardella im Europäischen Parlament vertreten ist. Sie folgt den Grundlinien ihrer Vorgänger-Fraktion Identität und Demokratie (ID), welche noch im Mai 2024 alle neun Mitglieder der Alternative für Deutschland (AfD) ausschloss. Am Ende der letzten Wahlperiode stellte sie mit 49 Abgeordneten die zweitkleinste Fraktion. In der laufenden Wahlperiode ist die neu gegründete Fraktion PfE mit 84 Abgeordneten drittstärkste Kraft im EU-Parlament.
Obwohl die politische Mitte, bestehend aus den Fraktionen der konservativen EVP, der sozialdemokratischen S&D und des liberalen Renew auch fünf weitere Jahre eine klare Mehrheit im Europaparlament bilden können, kann sich der »rechte Rand« aus nationalistischen, populistischen und rechtsradikalen Parteien bei diesen Wahlen mit einem deutlichen Zugewinn an Sitzen klar als Gewinner sehen. Bei einer schwachen Wahlbeteiligung von weniger als 52% entschieden sich die Franzosen 2024 gegen ihre Regierungspartei; Macron und seine Bewegung gingen als Verlierer aus dieser Wahl. Es scheint ein klarer Wunsch der Bevölkerung nach radikaler Veränderung, aber auch ein deutliches Zeichen gegen die Europäische Union.

Noch am Wahlabend löste Frankreichs Präsident die Nationalversammlung auf und führte somit vorgezogene Neuwahlen herbei, die regulär erst im Anschluss an die nächsten Präsidentschaftswahlen in der ersten Hälfte des Jahres 2027 hätten stattfinden sollen.
Es ist möglich, dass Macron ein Wachrütteln der Gesellschaft im Sinn hatte, um eine Einbahnstraße in Richtung einer Präsidentschaft unter Marine Le Pen deutlich zu verhindern. Diskutiert wird auch darüber, ob es ein Versuch war, eine eindeutige Klärung zu erzielen, um die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zurückzuerlangen, da das Präsidentenlager — ein Zusammenschluss aus Macrons Partei Renaissance (zuvor unter dem Namen La République En Marche, dt. Die Republik in Bewegung), François Bayroux’ Mitte-Partei Mouvement Démocrate (MoDem), dt. Demokratische Bewegung, und der mitte-rechts-Partei Horizons (HOR), dt. Horizonte, rund um den ehemaligen Premierminister Edouard Philippe — seit den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2022 nur noch mit einer relativen Mehrheit in der Nationalversammlung vertreten war, demnach keine alleinige Entscheidungsgewalt mehr besaß und die Regierungsarbeit bereits in den vergangenen Monaten zusehends erschwerte.
Auch wirtschaftliche Gründe könnten dafür sprechen, Neuwahlen vorzuziehen und eine sogenannte Cohabitation zu erzwingen, wobei zwar ein schwieriges politisches »Zusammenleben« mit einem konträren politischen Lager innerhalb der Nationalversammlung vorprogrammiert wäre, das Präsidentenlager bei unbequemen Entscheidungen und auferlegten Sparmaßnahmen jedoch nicht mehr den in der Bevölkerung und der Opposition oft gesuchten alleinigen Sündenbock darstellen würde.
Mit Blick auf ein Erreichen der absoluten Mehrheit des RN, welcher dann mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Jordan Bardella auch den Premierminister gestellt hätte, wäre noch eine weitere Strategie des Präsidentenlagers denkbar, und zwar den RN nicht nur dem Volk als regierungsunfähig vorzuführen, sondern einen triftigen Grund für eine erneute Parlamentsauflösung zu erzwingen, die nach Ablauf einer Frist von mind. 12 Monaten aufgrund einer nicht funktionierenden Cohabitation einen triftigen Grund darstellen kann.
Der Ausgang der Wahl zu einer neuen Nationalversammlung am 07. Juli 2024 brachte schließlich eine unerwartete Wendung, als sich im Gegensatz zu den Vorhersagen im Zuge der Europawahl sowie den Ergebnissen des ersten Wahldurchgangs der Parlamentswahlen mit einem Sieg des RN letztendlich das linke Lager mit seinem Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP), dt. »Neue Volksfront«, unter Führung Jean-Luc Mélenchons, als Wahlsieger hervorging und damit das Präsidentenlager als zweit- und den RN als drittstärkste Kraft hinter sich ließ.
Die daraus resultierende Situation ist jedoch keine, mit der gerechnet werden und die präzise geplant gewesen sein konnte; das Präsidentenlager muss sich in jedem Fall neu orientieren, und es muss nun klug reagiert werden, um in den kommenden Monaten überhaupt regieren zu können. Die Zeit der Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 in Paris konnte man wahrscheinlich als Ruhe vor dem Sturm bezeichnen, bzw. konnte so Zeit gewonnen werden, um sämtliche Szenarien durchzuspielen. Macron hatte die Regierung von Gabriel Attal trotz Rücktritts gebeten, für diese Übergangsphase geschäftsführend im Amt zu bleiben. Am 05. September 2024 hat der Präsident nach mehr als 50 Tagen einen neuen Premierminister ernannt, der jedoch nicht, wie üblich, aus dem Block mit der Mehrheit der Sitze stammt und damit, wie noch am Wahlabend vom NFP gefordert, aus links-grünen Reihen. Mit Michel Barnier wurde ein konservativer Republikaner mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Es wird sich schnell zeigen, ob Macrons Rechnung damit aufgehen kann oder das Land unregierbar wird.

En marche ou en arrêt ? In Bewegung oder im Stillstand?
Frankreichs amtierender Präsident galt bei Amtsantritt als einer, der mit einem »linken« und mit einem »rechten« Bein in eine neue Zeit vorangehen wollte. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten konnte die strikte Trennlinie zwischen links und rechts überwunden werden und die politische Mitte erstarkte.
Die Initiative Macrons, mit seiner Bewegung eine andere Linie zu fahren, war weit mehr als eine willkommene Abwechslung, sondern ein dynamischer, wenn nicht sogar radikaler Wandel in einem festgefahrenen System. Die neue Bewegung stellte sich gegen das Schema F, es brachte Politiker aus sozialen und konservativen Lagern zusammen und wurde im Jahr 2016 unter dem Namen En Marche (dt. In Bewegung) als liberal-zentrale Allianz, mit der Macron seit 2017 als Staatsoberhaupt Frankreichs unter dem Namen La République en Marche (dt. Die Republik in Bewegung) die Exekutive führt. Er ist nicht nur als entschlossener und durchsetzungsfähiger Entscheidungsträger im eigenen Land bekannt, sondern als Motor der Europa-Integration, indem er für ein stärkeres Zusammenwachsen der einzelnen europäischen Staaten eintritt.
Macron wird bei den kommenden Präsidentschaftswahlen, die für das Jahr 2027 angesetzt sind, nicht mehr antreten, denn seit einer Verfassungsänderung im Jahr 2008 darf kein Präsident mehr als zwei Amtszeiten absolvieren. Es ist demnach in seinem Interesse, seine Nachfolge und die damit verbundene Weiterführung seiner politischen Vorstellungen zu sichern. Die aktuellen Ereignisse lassen den Schluss zu, dass sein politisches Erbe auf dem Spiel steht. Dem Land droht innenpolitisch bestenfalls eine Lähmung, schlimmstenfalls ein totales Chaos.
Nach zwei gewonnenen Stichwahlen um die Präsidentschaft konnte Macrons Partei Renaissance (RE) das Rennen sowohl 2017 als auch 2022 für sich entscheiden, weil er sich betont zentriert positionierte und damit eine neue, vielversprechende Ära in der französischen Politik einleitete. Bereits in dieser ersten Amtszeit wurde die Regierung zweimal umgebildet. Nach einem knappen Sieg bei den Parlamentswahlen im Jahr 2022 erhielt das Bündnis Ensemble pour la République (kurz Ensemble, dt. Zusammen), rund um die Präsidentenpartei, in Zusammenschluss mit den neuen Bündnispartnern MoDem und Horizons, Agir, Territoires de progrès, Parti radical und En commun in der Nationalversammlung nur noch eine relative Mehrheit, was die Regierungsarbeit in den darauffolgenden Monaten zusehends schwieriger gestaltete. Traditionsgemäß stammt der/die Regierungschef/-in aus dem die Mehrheit stellenden Bündnis. Nach zwei gescheiterten Regierungen unter den Parteilosen Édouard Philippe und Jean Castex (beide ehemals den Republikanern zugehörig), setzte sich mit der Sozialdemokratin und ehemaliger Ministerin Élisabeth Borne in der zweiten Amtszeit dann eine linksgerichtetere Lösung durch, mit den Schwerpunktthemen Bildung, Gesundheit, Umwelt, Vollbeschäftigung, der EU-Frage und damit verbundene innere und äußere Sicherheit, sowie eine Wiederbelebung der demokratischen Werte.
Im Zuge der Debatten um Rentenreform und Änderung des Einwanderungsgesetzes muss sich Borne zahlreichen Mistrauenvoten, den sogenannten motions de censure, stellen, denn kaum ein Gesetz wird noch anhand einer Einigung der verschiedenen Lager erlassen. Stattdessen kommt immer häufiger Artikel 49 der Verfassung zum Einsatz, mithilfe dessen die Möglichkeit besteht, einen Gesetzesentwurf mit der Vertrauensfrage in Verbindung zu bringen, wonach der Vorschlag als angenommen gilt, es sei denn, innerhalb der darauffolgenden 24 Stunden wird ein Misstrauensantrag gestellt.
Nach einem reformschweren und damit komplizierten Jahresabschluss 2023 wird die Regierung unter Borne im Januar 2024 unhaltbar und erneut umgebaut. Macron ernennt mit dem damals 34-jährigen Gabriel Attal und ehemaligen Bildungsminister aus den eigenen Reihen den jüngsten Premierminister der Fünften (V.) Republik. Es sollte ein Belebungsversuch der Bewegung im Hinblick auf die anstehenden EU-Wahlen sein, sowie auch ein notwendiger Umschwung, um die Wogen im eigenen Lager zu glätten.
Der Senat wird seit Gründung der V. Republik fast ausschließlich vom bürgerlich-konservativen Lager bestimmt, was die Reformpolitik Macrons jüngst besonders durch große Zugeständnisse des Präsidentenlagers an die Republikaner in der Debatte um das heftig umstrittene Einwanderungsgesetzes im Dezember 2023 und damit verbundene restriktivere Bestimmungen prägte. Der Kompromiss mit der Opposition bedeutet in der Migrationspolitik für die Zentristen einen Schritt weiter nach rechts. Und obwohl Macron selbst den Ausschuss zur Prüfung des Gesetzes beauftragte und viele Teile schon wenige Wochen später als rechtswidrig eingestuft und somit zurückgenommen wurden, waren viele ursprünglich enthusiastische Wähler der Bewegung endgültig abgeschreckt. Die Führungsriege war komplett aus dem Gleichgewicht. Nicht nur innenpolitisch wurde die Regierungsarbeit für Macron immer schwieriger, auch gesellschaftlich hat sich die Lage zugespitzt.
Schon 2014 unter dem damaligen Präsidenten François Hollande zeigen sich erste Tendenzen der zukünftigen innenpolitischen Ausrichtung Macrons. Die im selben Jahr eingeführte Reichensteuer wurde trotz der ursprünglich festgelegten zwei-Jahres-Frist bereits nach der Hälfte der Zeit zurückgezogen, damit aus Frankreich nicht »ein Kuba ohne Sonne« würde, wie der damals kurz zuvor ernannte Wirtschaftsminister Emmanuel Macron das Projekt kommentierte. Und im Gegensatz zu vorherigen Präsidenten ist Macron einer, der nicht nur eine klare Vision hat, sondern auch Entscheidungen trifft und sie umsetzt. Beide Amtszeiten werden bislang durch seine Reformpolitik geprägt. Dieses Vorgehen bringt große Unzufriedenheit, vor allem innerhalb der Gesellschaft mit sich. Macrons Politik wurde zunehmend als ungerecht empfunden und die soziale Frage wurde immer lauter gestellt. Große Teile der Bevölkerung fühlen sich betrogen, Kürzungen und Einschränkungen scheinen nur die Mittel- sowie die Unterschicht, nicht aber die Oberschicht zu betreffen. Der Graben zwischen Arm und Reich vergrößert sich zusehends.

Gegen Ende des Jahres 2018 zeigte die Gelbwesten-Bewegung deutlich die Wut innerhalb der Bevölkerung. Was damit begann, mit friedlichen Demonstrationen auf soziale Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, endete im folgenden Jahr oftmals in Krawallen und Auseinandersetzungen mit der Polizei und trug weiter zur Spaltung der Gesellschaft bei.
Im März 2023 dann setzte die französische Regierung den umstrittenen Gesetzentwurf zur Rentenreform um. Auch wenn das in über 40 Untereinheiten zersplitterte Rentensystem längst einer Generalüberholung hätte unterzogen werden müssen, hat sich kaum ein Präsident vor Macron das Thema so kompromisslos angegangen. Nicolas Sarkozy hatte das Renteneintrittsalter auf 62 Jahre angehoben, was im Jahr 2010 zu monatelangen Protesten in der Bevölkerung führte. Macron ging einige Schritte weiter, strebte eine Reform der Vereinfachung und Zusammenlegung sämtlicher Berufsgruppen orientierten Rentenkategorien an sowie eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre.
Die Covid-19 Pandemie und massive Proteste in der Bevölkerung begleitet von weitreichenden Streikaktionen verzögerten bzw. veränderten das Projekt, bis das Präsidentenlager im Jahr 2023 trotz massiven Widerstands innerhalb der Zivilbevölkerung und fehlender Abstimmung in der Nationalversammlung des Artikels 49 der Verfassung Gebrauch machte und damit die Umsetzung eines abgespeckten Gesetzentwurfs exklusive Reformierung des gesamten Systems, jedoch inklusive Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre erzwingt. Auf politischer Ebene kam es im Anschluss zu zwei erfolglosen Misstrauensvoten gegen die Regierung unter Élisabeth Borne und innerhalb der Zivilgesellschaft zur Eskalation der Unruhen, die in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei endeten.
Ende 2023 führte das neue Einwanderungsgesetz zu weiteren Spannungen und einer noch größeren Spaltung innerhalb der Bevölkerung. Weitreichende Streikaktionen und Massenproteste, nicht selten begleitet von Ausschreitungen, sind die Folge und prägen bislang Macrons Amtszeit.
Die Bürger fühlen sich nicht gehört, dazu überrumpelt von umfangreichen Reformplänen. Die Menschen fühlen sich unverstanden, unbeachtet und ungehört. Aus der erhofften positiven Wandlung des Systems ist für viele eine Enttäuschung geworden. Die soziale Diskussion und die Migrationsthematik führen zu Unverständnis, Unzufriedenheit und vergrößern weiter die Distanz zur Staatsführung und Politik allgemein, bis hin zu völliger Resignation. Die Bürger haben den Eindruck, dass die Politik ihnen nicht die Mittel zur Verfügung stellt, selbst etwas bewegen zu können.
Das Ergebnis liest sich an den stetig fallenden Beliebtheitswerten des Präsidenten wie auch an verminderter Wahlbeteiligung ab. Ein Anstieg in Macrons Popularität scheint hingegen an extreme Krisen geknüpft, wenn gutes Management, bspw. während der Covid-19-Pandemie oder außenpolitische Führungsstärke in den aktuellen Kriegsgeschehnissen demonstriert werden.

Der König ist tot — es lebe der König!
Die Franzosen haben seit jeher ein schwieriges Verhältnis zu den Anführern ihres Landes. Einerseits strebt das Volk nach einem starken Anführer, der die Nation stärkt und vorantreibt, andererseits widerstrebt ihm die vertikale Machtausübung. Vor allem in Krisenzeiten hat sich ein politisches System wie in Frankreich durch effiziente Entscheidungswege ausgezeichnet, während im konsensorientierten Föderalsystem in Deutschland ewig hin und her diskutiert wird. In »normalen« Zeiten wirkt es jedoch schnell autokratisch. Die Franzosen sind bekannt für Hilfe zur Selbsthilfe, wenn es darauf ankommt. Die Revolution Ende des 18. Jahrhunderts, die soziale Frage, der Zusammenschluss von Arbeitern zu Gemeinschaften, Genossenschaften, und folglich Gewerkschaften aufgrund unwürdiger Lebensverhältnisse im Zuge der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts — Frankreich gilt als Land der Selbstbestimmung, des Volksaufstandes, und mit einer unerbittlichen Streikkultur.
Das französische Volk bestimmte in der Geschichte immer wieder den Lauf der Dinge; die Herrscher mussten sich oftmals ergeben oder wurden niedergerungen, und das bis zum heutigen Tage. Auch wenn sich die Guillotine zur Metapher gewandelt hat, überlebt diese dennoch nicht jeder, der den Zorn des Volkes auf sich zieht. Vor allem bei der Durchsetzung von für viele Bürger als »ungemütlich« empfundenen Reformversuchen lehnt sich das Volk gegen sein Staatsoberhaupt auf und versucht mit aller Macht, es in die Knie gezwungen.
Die Beziehung zwischen Führung, Staat und Volk wurde stets durch Widerspruch und Zerrissenheit geprägt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand unter Kaiser Napoleon Bonaparte eine Regierungsform, die zentral um ihn als Anführer organisiert wurde, wobei er zwar einerseits durchaus erneut eine diktatorische Autorität mit sich brachte, aber gleichzeitig auch die Befähigung, das Land zu einen und das Volk zu motivieren und mitreißen zu können. Die Gesellschaft zollte der Führungsfigur Anerkennung und Verehrung. Nach radikalen Veränderungen im folgenden Jahrhundert, griff eine der mit Abstand wichtigsten Politfiguren im Frankreich des 20. Jahrhundert, Charles de Gaulle, gefeierter »Befreier der Nation«, Begründer und erster Präsident der V. Republik und Verantwortlicher für die aktuelle französische Verfassung, diese starke Führungsrolle erneut auf und vertrat als selbsternannter »Monarch« die Meinung, dass »die Republik nicht die passende Staatsform« für sein Land sei.
Kein anderer hat die jüngere Geschichte des Landes so stark geprägt wie er, und nach wie vor wird er von großen Teilen des Volkes verehrt, viele bezeichnen sich als Gaullisten. Dennoch stieß auch seine Führungsrolle an Grenzen, er wurde letztendlich unter dem Druck eines sich unverstanden gefühlten Volkes zum Rückzug bewegt, nachdem es im Zuge der Mai-Unruhen 1968 — die in vielen Teilen der Welt, aber besonders in Frankreich zu politischen Reformen führen sollten — gegen den Konservatismus und für größere soziale Gerechtigkeit kämpfte.

Die Rolle des Präsidenten wurde unter de Gaulle nicht nur als zentrale, sondern als übergreifende Funktion verstanden, die er selbst in einer Art prägte wie kein anderer. In allen innen- und außenpolitischen Bereichen, die ihm maßgeblich erschienen, gab er als Präsident den Ton an, nicht die Regierung. Er wurde zur Schlüsselfigur in Entscheidungsprozessen und bestimmte die politischen Leitlinien, bis hin zur Planung der Tagesordnung für Ministerratssitzungen und Priorisierung von Gesetzesvorhaben. Der Präsident soll in Krisensituationen die vitalen Interessen Frankreichs aufrechterhalten, die republikanische Ordnung innenpolitisch sowie die Handlungsfähigkeit des Staates außenpolitisch absichern. Im Vergleich zu Deutschlands politischem System und dem/der Bundeskanzler/-in als Oberhaupt der führenden Partei nimmt der französische Präsident als politische Figur demnach eine sehr viel stärkere Position ein, vorausgesetzt, auch die Mehrheit in der Nationalversammlung steht hinter ihm. Diese zentrale Führungs- und Machtposition des Staatsoberhauptes mit einer personenfixierte Politik im semipräsidentiellen System in Frankreich steht heutzutage in klarem Kontrast zu einem parteiorientierten, rein parlamentarischen System wie es in Deutschland gehandhabt wird. Im Gegensatz zu Deutschland ist man in Frankreich nicht koalitionserprobt und lehnt das Konzept ab. Ein Präsident, der in einer Koalition oder mit einer Minderheit regiert, ist in seinen Funktionen geschwächt. Und ein schwacher Präsident bedeutet eine schwache Führung.
Frankreich und die Revolution – alles Geschichte?
Die Franzosen sind ein stolzes Volk, und das zeigen sie auch — ein weiterer großer Unterschied zu den Deutschen, die nach wie vor mit ihrer eigenen Geschichte zu kämpfen haben, immer noch gehemmt sind, stolz über ihr Land zu sprechen, wenn sie nicht gleich als Nationalisten abgestempelt werden wollen. Daher stößt schon das Wort Nationalstolz in Deutschland breit gefächert auf Ablehnung, vom Fußball mal abgesehen.
Trotz geografischer Nachbarschaft liegen zwischen den beiden Völkern Welten. Geprägt durch die jeweilige geschichtliche und kulturelle Entwicklung, hat sich ein Schubladen-Denken durchgesetzt: Anpassung gegenüber Rebellion, Mitläufer gegen Anti-Bewegung, Verträglichkeit gegenüber Streitsucht, manchmal werden in der Betrachtung auch Angst und Mut gegenübergestellt. Während in Deutschland Gesetzesänderungen, Renten- oder Steuerreformen lange Zeit zu großen Teilen von der Bevölkerung getragen bzw. stillschweigend hingenommen wurden, war und ist Frankreich Paradebeispiel für selbstbestimmte Volksentscheidungen, die nicht auf dem Papier, sondern auf der Straße bzw. durch Arbeitsverweigerung vollzogen werden.
Auch in der menschlichen Entwicklung gibt es grundsätzlich zwei Hauptgruppen, die rebellierenden und die sich anpassenden Kinder. Und in Frankreich wirkt es von außen manchmal, als ob sich wütende Jugendliche gegen die Eltern auflehnen würden, um sich nicht in ihrer Autonomie beschneiden zu lassen. Es geht im Kern darum, sich nicht alles gefallen zu lassen, Grenzen auszutesten, die Hierarchie in Frage zu stellen, aber hauptsächlich auch darum, eigene Bedürfnisse klar in den Vordergrund zu stellen. Im gesellschaftlichen Rahmen mündet diese Rebellion oftmals in Unruhen, die nicht selten in Gewalt enden. Es scheint eine Mischung aus Nationalstolz und dem Recht auf Selbstbestimmung zu sein, die bei sämtlichen Anlässen, ob sportlicher oder politischer Natur, am Nationalfeiertag oder zu Protestaktionen die Franzosen die Marseillaise, die Nationalhymne, mit größter Überzeugung singen lässt. Die Botschaft der Revolution ist seit 1789 tief in den Bürgern verankert:
Allons enfants de la Patrie,
Le jour de gloire est arrivé !
Contre nous de la tyrannie,
L’étendard sanglant est levé.
[…]
Que veut cette horde d’esclaves,
De traîtres, de rois conjurés ?
Pour qui ces ignobles entraves,
Ces fers dès longtemps préparés ?
[…]
C’est nous qu’on ose méditer
De rendre à l’antique esclavage !
Aux armes, citoyens,
Formez vos bataillons,
Marchons, marchons !
Qu’un sang impur Abreuve nos sillons !
Auf geht’s, Kinder des Vaterlands!
Der Tag des Ruhmes ist gekommen!
Gegen uns ist der Tyrannei
Blutiges Banner erhoben.
[…]
Was will diese Horde von Sklaven,
Von Verrätern, von verschwörerischen Königen?
Für wen diese gemeinen Fesseln,
Diese seit langem vorbereiteten Eisen?
[…]
Man wagt es, daran zu denken,
Uns in die alte Knechtschaft zu führen!
Zu den Waffen, Bürger!
Formiert eure Truppen,
Marschieren wir, marschieren wir!
Bis unreines Blut unserer Äcker Furchen tränkt!
Die Botschaft ist klar: Das Volk wird nicht klein beigegeben, die Bürger wehren sich. Nun gibt Macron seit seinem Amtsantritt den Entscheidungsfreudigen, den Unbeirrbaren, einen Präsidenten, der sich kaum davon beeindrucken lassen scheint, wie sehr sich das Volk auch gegen seine Vorhaben auflehnt. Weder Proteste noch Generalstreiks verhinderten seine Reformpläne. Er weiß jedes Schlupfloch der Verfassung für sich zu nutzen, wandert jedoch auf schmalem Grat damit, gesellschaftlich betrachtet wie auch in Bezug auf die politische Zukunft.

Wie gestaltet sich also eine französische Revolution im 21. Jahrhundert? Weitreichende Streiks lähmen das Land, schüren jedoch noch mehr Frust innerhalb der Gesellschaft. Mehr und mehr kam es zur Eskalation der Unruhen in Folge von Protestaktionen und zur Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften.
Sowohl der Ruck nach Rechts bei den EU-Wahlen sowie die Wendung nach Links bei den Parlamentswahlen geben, auch mit Blick auf die für 2027 angesetsten Präsidentschaftswahlen, ein klares/eindeutiges Zeichen in Richtung Staatsführung. Die Bevölkerung zeigt klar und deutlich das Bedürfnis nach Veränderung, bzw. nach mehr Gerechtigkeit. Es bleibt abzuwarten, wie weit das Volk noch gehen würde, wenn sich nichts ändert oder sich die aktuelle Lage in ihren Augen verschlechtert.
Die unregierbare Republik: Fehlt Frankreich eine Kompromiss-Kultur?
Staatsordnung und Rechtsbestimmung spielen hier eine entscheidende Rolle. Frankreichs aktuelle Verfassung wurde mit Ausrufung der V. Republik festgelegt und wird durch ein semipräsidentielles Regierungssystem ausgeführt, das sowohl Merkmale des parlamentarischen und als auch des präsidentiellen Systems zusammenbringt und somit die Stärken beider Systeme zu stärken und die Schwächen zu verringern sucht. Es besteht aus einer Doppel-Exekutive, gebildet vom Präsidenten der Republik und der Regierung, bestehend aus Premierminister, dem Regierungschef, und dessen unterstellten Ministern.
Das Parlament als Legislative setzt sich aus einem Zweikammersystem zusammen, der Nationalversammlung (Unterhaus) und dem Senat (Oberhaus), die für die Vorlage und Ausarbeitung von Gesetzen zuständig sind, wobei die Nationalversammlung bei Uneinigkeit das letzte Wort hat. Exekutive und Legislative bedingen sich gegenseitig und können unabhängig voneinander keine Regierungsarbeit ausführen.

Der Begriff des semipräsidentiellen bzw. semipräsidialen Systems wurde 1980 von dem frz. Politikwissenschaftler Maurice Duverger geprägt und später allgemein zur Bezeichnung für gemischte Regierungssysteme verwendet. Heute werden bisweilen sehr unterschiedliche Verfassungsordnungen zusammenfassend als »semipräsidentiell« bezeichnet. Die ersten politischen Systeme, die Merkmale des Semipräsidialismus aufwiesen, entstanden im Lateinamerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Erstmals wurden solche Systeme in Finnland und 1919 in Deutschland in der Verfassung der Weimarer Republik festgelegt. Über die folgenden Jahrzehnte blieben derartige Regierungssysteme auf wenige Länder und/oder kurze Zeitspannen begrenzt. Erst der Zerfall der Sowjetunion führte zu einem Umbruch, wodurch semipräsidentielle Regierungssysteme vor allem in Osteuropa und auch in Afrika, vorwiegend in ehem. frz. Kolonien, zunehmende Verbreitung fanden.
Nach der präsidialen Regierung unter den Nationalsozialisten und dem Zweiten Weltkrieg war das 1949 erarbeitete Grundgesetz, die aktuelle Verfassung Deutschlands — vorerst für die Bundesrepublik und später auch gültig für das wiedervereinigte Deutschland — eine klare Antwort auf die gescheiterte Weimarer Republik. Die parlamentarische Demokratie mit einem Verhältniswahlrecht ist seitdem in Deutschland etabliert und das Staatsoberhaupt, seit 2017 Frank-Walter Steinmeier, erfüllt fast ausschließlich repräsentative Aufgaben und greift nicht in die politische Führungsarbeit ein.
Die französische Verfassung sieht vor, dass die Regierung die Politik der Nation bestimmt und leitet. Diese ist dabei sowohl vom Vertrauen des Staatspräsidenten als auch des Parlaments abhängig, das die Macht hat, die Regierung abzuberufen. Das System wird geprägt durch eine starke Exekutive, eine klare Trennung der Gewalten und eine direkte Verantwortung des Präsidenten dem Volk gegenüber. Der Präsident wird direkt vom Volk gewählt und hat die Macht, Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen. Der Präsident verfügt über weitreichende Befugnisse, u.a. die Möglichkeit der Parlamentsauflösung sowie ein eigenständiges, das Parlament umgehende Verordnungsrecht (Veto- und Dekretrecht), womit er eine überaus wichtige Rolle bei der Kontrolle der Legislative und bei der Entwicklung und Umsetzung der Regierungspolitik spielt. Diese starke Exekutive kann er allerdings nur problemlos ausüben, solange er über die parlamentarische Unterstützung verfügt.
In der politischen Wirklichkeit hängt eine reibungslose Regierungsarbeit demnach davon ab, ob der Präsident und die Mehrheit im Parlament dem gleichen politischen Lager angehören und dem Präsidenten damit eine eigene Mehrheit im Parlament zuteilwird. Sollte das Gegenteil eintreffen, spricht man von einer Cohabitation, was bislang drei Mal in der französischen Geschichte eintrat. Vor allem die innenpolitische Zusammenarbeit wird hierbei zu einer großen Herausforderung. Die Gesetzgebung ist vor diesem Hintergrund stark beeinflusst, auch bereits erlassene Gesetze können mit einem Premierminister aus dem entgegengesetzten Lager gekippt werden. Die Macht des Parlaments zeigt sich schon in der ersten Cohabitation 1986 zwischen dem damals amtierenden Präsidenten François Mitterand (PS, Parti Socialiste, dt. Sozialistische Partei) und dem gaullistischen Premierminister Jacques Chirac (RPR, Rassemblement pour la République, dt. Zusammenschluss für die Republik) durch Privatisierungen von Unternehmen, die unter Führung Mitterrands mit einer Mehrheit im Parlament kurz zuvor verstaatlicht worden waren.

Der Hémicycle, der Plenarsaal der französischen Nationalversammlung, setzt sich aus 577 Sitzen zusammen. Da mit 193 Sitzen für den sozialdemokratisch-linken Bündnis NFP, 166 Sitzen für Macrons liberal-zentralen Block Ensemble und die Verbündeten MoDem und Horizons, sowie 142 Sitzen für den Rechtsaußen-Flügel, bestehend aus dem RN und der Kleinpartei À droite (dt. rechts/nach rechts), drei annähernd gleich große Blöcke als Resultat der Wahlen entstanden sind, gibt es weder eine absolute Mehrheit für das Präsidentenlager noch eine Cohabitation im klassischen Sinne, da die Opposition nicht die Mindestzahl von 289 Sitzen und damit keine absolute Mehrheit errungen hat. Man kann allerdings auch nicht von einer Koalition im deutschen Sinne sprechen. Die unterschiedlich ausgerichteten Gruppen sind in der Lage, sich dank der Wahlergebnisse im Parlament gegenseitig zu blockieren, womit bei jedem Streitthema ein innenpolitischer Stillstand droht. Um eine funktionierende Regierungsarbeit zu ermöglichen, gilt es vorerst vor allem darum, eine komplette Blockade aus einer Zusammenarbeit von RN und NFP zu verhindern.
Eine Koalitionspolitik nach deutschem Verständnis ist in Frankreich kaum vorstellbar. Und doch sind Allianzen nicht unbekannt. Wie auch das Beispiel der vorgezogenen Wahlen zeigt, können sich die Parteien zu schwergewichtigen Bündnissen zusammenschließen und tasten sich gewissermaßen an eine kompromiss-orientierte Politik heran. Allen voran haben die Linken auf den bisher größten Zusammenschluss gesetzt, um die Siegchancen bei den vorgezogenen Parlamentswahlen zu erhöhen. Es wird sich zeigen, ob dies nur kurzfristig und mit Blick auf Wahlsiege funktioniert hat oder ob die Parteien in ihren Bündnissen längerfristig zusammenarbeiten können.
Trotz der Entstehung einer integrierenden Struktur des Parteiensystems in den 1970er Jahren unter der Staatsführung von Valéry Giscard d’Estaing, haben Programme und Mitgliederzahlen einzelner Parteien nicht den gleichen Stellenwert wie bspw. in Deutschland, denn ihr Hauptziel besteht darin, den richtigen Kandidaten für die Wahlen auszuwählen, vorzubereiten und zu unterstützen. Ein Mehrheitswahlrecht mit Stichwahl war auch in Deutschland in den 1950er Jahren nicht unbekannt. Heute ist man dort daran gewöhnt, Koalitionen zu bilden und in Blöcken zu agieren. Auch dieses System stößt an seine Grenzen, wie im aktuellen deutschen Politgeschehen gut zu beobachten ist. Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) plädierte bis zum Ende für ein Mehrheitswahlsystem auch in Deutschland, stieß damit jedoch seit den 1960er Jahren auf Widerstand, als das Thema zum ersten und letzten Mal seither auf der Liste der Reformen stand.

Kann Macrons Rechnung noch aufgehen?
Für Macron und sein Lager sind schwierige Zeiten vorprogrammiert, denn innerhalb des Parlaments ist alles eine Frage von Allianzen. Eine Partei ohne absolute Mehrheit hat kein ausreichendes Gewicht und kann somit ohne Mithilfe von koalierenden Parteien bzw. Fraktionen keine Gesetze verabschieden. Ein Bündnis sowohl mit dem RN als auch mit dem LFI wurde von Anfang an von allen Seiten ausgeschlossen. Der NFP unter Führung Mélenchons beanspruchte noch am Wahlabend die alleinige Führung für sich. Uneinigkeit innerhalb des Linken-Bündnisses bereits über die Nominierung für die Parlamentspräsidentschaft ließ erkennen, dass die explizit für die Parlamentswahlen, also aus der Not heraus gebildete Formation wackelt.
Ein zerstrittenes linkes Lager hätte demnach dem Präsidentenlager bei der Ernennung eines Premierministers aus den eigenen Reihen in die Hände spielen können. Aber auch die Republikaner zeigten sich lange Zeit kompromisslos und nicht bereit für einen Zusammenschluss mit den Macronisten, trotz mehrfacher Bemühungen Macrons im Vorfeld der Wahlen, einen Teil der Republikaner zu umwerben und für eine Erweiterung seines Bündnisses zu bewegen. Eine Tendenz konnte jedoch bereits erkannt werden, als eine Einigung mit den Republikanern erzielt wurde, um den entscheidenden Ausschlag bei der Wahl für die Parlamentspräsidentschaft zu geben und dem Präsidentenlager damit das Amt zu sichern.
Mit der im Juli gewählten Parlamentspräsidentin Yaël Braun-Pivet (EPR) wird eine »Macronistin« eine wichtige Position besetzen, die nicht ausschließlich repräsentative Funktionen erfüllt, sondern der auch sowohl die Leitung der Debatten zuteil wird als auch das Weiterleiten umstrittener Gesetzesvorhaben an den Verfassungsrat möglich sein wird, deren Zusammenstellung sie in ihrer Stellung ebenfalls beeinflussen kann.

Für Macrons Bewegung ist die aktuelle Situation trotzdem weit vom Ideal entfernt, denn Blockaden und eine erneute Verschiebung sowohl nach links oder nach rechts widersprechen seiner Zukunftsvision. Es ging vorrangig darum, die wesentlichen Errungenschaften aus der bisherigen Präsidentschaft zu erhalten, wichtige Entscheidungsprozesse weiterhin in der Hand zu haben und eine relativ stabile Regierung zu bilden. Macron musste dementsprechend taktieren und eine Person für den Chefposten der Regierung finden, die nicht sofort von allen Seiten abgelehnt werden würde. Der NFP hatte angekündigt, jede und jeden nicht aus seinem Lager stammende/-n Kandidat/-in sofort einem Misstrauensvotum zu unterziehen. Letztlich zielte die Wahl Macrons auf eine Person ab, die zumindest den RN nicht auf Anhieb verprellen würde, der zwar als drittstärkste Kraft (noch) keine Haupt-, aber doch keine unbedeutende Rolle spielt, denn sie ist die einzige Partei, die auch ohne Bündnis ein gewisses Stimmgewicht mitbringt doch das entscheidende Zünglein an der Waage darstellen könnte.
Der Regierungschef füllt in der stärker parlamentarisch ausgerichteten Republik eine besondere Machtposition aus, da er in einem funktionierenden System dem Präsidenten in die Hände spielt und seine Politik direkt umsetzt, was die aktuelle Wahl des Republikaners Michel Barnier noch bestätigt. So wurde nach über 50 Tagen Ungewissheit und einer geschäftsführenden Regierung im Amt der ehemalige EU-Kommissar zu Frankreichs neuem Regierungschef ernannt. Mit über 50 Jahren Erfahrung auf politischer Bühne hatte Barnier zahlreiche Ministerposten inne und ist auch außenpolitisch kein Unbekannter, denn er wurde von Brüssel mit den Verhandlungen rund um den Brexit, den EU-Austritt Großbritanniens beauftragt. Mit ihm steht ein sehr routinierter und krisenerprobter Politiker an der Regierungsspitze. Und obwohl es sich in den letzten Jahrzehnte einbürgerte, sowohl den Regierungschef aus den Reihen der stärksten Kraft in der Nationalversammlung zu wählen sowie die Regierung nach klaren Mehrheitsverhältnissen von eben dieser Kraft führen zu lassen, rückt die neu gebildete Führungsebene und damit Macrons Bewegung weiter nach rechts. Strategisch betrachtet scheint es der einzig mögliche Schritt aus Sicht des Präsidentenlagers, um sich weder an eine intern konfliktbelastete Linksfront noch an die Rechtsextremen binden zu müssen, das Risiko auf vorgezogene Präsidentschaftswahlen jedoch trotzdem gering zu halten, indem eine weitere Brücke zu den Konservativen geschlagen wird — wie schon im Senat jetzt auch in der Nationalversammlung. Dennoch wird es nicht nur politisch gesehen auch in den folgenden Monaten vor allem die Innenpolitik betreffend nicht einfacher, zu regieren bzw. Vorhaben umzusetzen, denn es muss mit größtem Widerstand von der starken linken Front gerechnet werden.
Und auch gesellschaftlich führt dieser Schritt zu weiterer Ablehnung eines Großteils derer, die Hoffnung in die Erneuerung des Systems gesetzt hatten. Der vermeintliche Plan, Attal als Nachfolger vorzubereiten, ist für Macron damit erst einmal nicht aufgegangen. Mit Barnier wurde eine Übergangslösung geschaffen, auch um Zeit zu gewinnen für die Planung der nächsten Schritte in Richtung Präsidentschaftswahl. Es bleibt abzuwarten, ob die Bündnisse pragmatisch, Interessen übergreifend und zielorientiert zusammenarbeiten können, oder ob Links- und Rechtsaußen hauptsächlich darauf hinarbeiten, die nächsten Wahlen für sich zu entscheiden.

Während das Regierungsprogramm des RN eine Antwort auf politisch und zivilgesellschaftlich strittige Themen wie die Stärkung der Kaufkraft dank einer Anhebung des Mindestlohns, die Eindämmung der erhöhten Migration und einer irregulären Einwanderung sowie die Erhöhung der Sicherheit verspricht, strebt der NFP u.a. nach der Stärkung der Demokratie und der Abwehr eines Rechtsrucks sowie der erneuten Reformierung sozialer Projekte, einem Einfrieren der Preise für Energie und Lebensmittel, der Wiedereinführung der Reichensteuer. Beide hatten im Vorfeld der Wahlen angekündigt, die umstrittene Rentenreform zurückzunehmen. Die neu gebildete Regierung unter Führung der Konservativen könnte sich mit dem Präsidentenlager auf konkrete Vorhaben für die kommenden Monate einigen. Für Macron hat dies den Vorteil, dass zentrale Errungenschaften seiner Amtszeit wie die Rentenreform unangetastet bleiben. Wie im Europäischen Parlament wird den Fraktionen eine große demokratische Verantwortung zuteil. Das Präsidentenlager hat aktuell sechs der acht ständigen Ausschussvorsitze. Trotzdem wird es auch weiterhin Zugeständnisse an die Konservativen erfordern, besonders in Hinblick auf das neue Zuwanderungsgesetz, das unter der neuen Regierung im kommenden Jahr weiter verschärft werden soll, wobei es laut Regierungssprecherin Maud Bregeon »kein Tabu geben sollte, wenn es um die Sicherheit der Franzosen geht«. Eine politische Rückendeckung des RN gilt hier als sicher. Mit erneut heftigem Gegendruck muss hingegen aus der linken Opposition gerechnet werden. Zusätzlich werden auch in sämtlichen budgetären Debatten Zugeständnisse vom Präsidentenlager gemacht werden müssen, denn der Vorsitz des Finanzausschusses wird seit einer weiteren Verfassungsänderung aus dem Jahr 2008 der größten Opposition zugeschrieben und wird im aktuellen Fall von LFI, also von Linksaußen bestimmt.
Wie jedoch soll die Kluft zwischen Regierung und den Renaissance-Wählern verringert werden? Was wird bleiben von der Bewegung in Richtung eines modernen Frankreichs, das ein starkes Europa mitbestimmen kann? Kann eine Nähe zum Bürger (wieder)hergestellt werden oder entfremden sich System und Gesellschaft immer weiter voneinander? Kann die Revolution des 21. Jahrhunderts noch verhindert werden?
Auswirkungen auf Deutschland und Europa
Sowohl im französischen wie im europäischen Parlament bilden Macrons Bewegungen den demokratischen, EU-freundlichen, globalisierungs- und integrationszugewandten Knotenpunkt und stehen damit den souveränistisch-nationalistischen, globalisierungskritischen und EU-skeptischen Parteien und Bündnissen gegenüber, die sich am rechten bzw. linken Rand des politischen Spektrums bewegen. Während der RN vorwiegend auf soziokulturelle Themen, insbesondere auf Immigrations- und Fremdenfeindlichkeit setzt, will der NFP demokratische, ökologische, soziale und friedenspolitische Problemthemen angehen, so z.B. die Kaufkraft der Bürger zu stärken, u.a. anhand einer Erhöhung des Mindestlohns. Die russlandfreundliche Politik des RN und die geplanten Sozialausgaben des NFP stehen Macrons Kurs geprägt von Einsparungen im Haushalt und einer Stärkung der Verteidigungspolitik gegenüber.
Nicht nur innenpolitisch stehen schwierige Zeiten bevor, sondern auch außenpolitisch wird der Staatschef seine Vorhaben nicht uneingeschränkt durchsetzen können. Trotz weitreichender Befugnisse ist der Präsident vom Parlament abhängig, denn die Regierung trifft budgetäre Entscheidungen und kann somit auch die außenpolitischen Entscheidungen beeinflussen.
Trotz des Wahlsiegs des linken Lagers wurde der neue Regierungschef aus dem weit abgeschlagenen republikanisch-konservativen Lager gewählt, und die kürzlich gebildete Regierung verweist die Linken somit erneut in ihre Schranken. Dank der aktuellen Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung ist die Opposition sowohl von rechtsaußen als auch von linksaußen stärker denn je. Und beide Seiten zeigen weder integrationsoffene noch deutschlandfreundliche Tendenzen.
Die souveränistischen Strömungen nehmen seit einigen Jahrzehnten wieder zu. Aber auch Charles de Gaulle war immer der Auffassung, dass Länder keine Freunde hätten, sondern ausschließlich Bündnissen, um ihre jeweiligen Interessen voranzutreiben. Diese Aussage hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine besondere Aussagekraft. Dennoch wurde vor mehr als 60 Jahren zwischen beiden Ländern der Élysée-Vertrag von dem damaligen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und von Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichnet, der die ehemalige Feindschaft in eine Freundschaft umwandeln sollte und die bilateralen Beziehungen in den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Bildungspolitik herstellen sollte. Mit über 2000 Städtepartnerschaften und der Gründung zahlreicher partnerschaftlicher Jugendeinrichtung sollten die Bürger direkt einbezogen werden für kulturellen Austausch und Völkerverständigung. Dieser Vertrag wurde im Jahr 2019 von Präsident Macron und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel um die Themen Wirtschaft und Umwelt erweitert. Zusätzlich zu den regelmäßigen Treffen der Staatschefs und Außenministern sollen von nun an auch parlamentarisches Zusammentreffen beider Länder zustande kommen.

Die EU beruht auf einem guten und starken Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden größten und wirtschaftlich stärksten Ländern und damit antreibende Kraft Europas. Weder der RN noch das der NFP sprechen sich für eine enge Partnerschaft mit Deutschland oder eine Stärkung der EU aus und stehen Integration und Erweiterung sowie einem weiteren Zusammenwachsen der EU kritisch bis ablehnend gegenüber, denn sie streben danach, die nationalstaatliche Souveränität wiederherzustellen.
Die größte Fraktion im Linksbündnis NFP bildet die Partei des Linksaußen Jean-Luc-Mélenchon La France Insoumise (LFI) und diese ist von EU-Skepsis und Globalisierungskritik geprägt. Während andere Altermondialisten auf der Suche nach einer sozialeren Organisation der Weltordnung einen »Mittelweg« zwischen neoliberalen Kapitalismus und Sozialismus anstreben, spricht sich Mélenchon klar für eine (globale) Revolution aus. Er galt als treibende Kraft vor der Volksabstimmung 2005 über eine EU-Verfassung, die aufgrund der Ablehnung des französischen und des niederländischen Volkes trotz vorheriger Ratifizierung in zahlreichen anderen europäischen Ländern scheiterte.
Mit einem verstärkten Einfluss von rechts- und links-orientierten Bündnissen werden erneut die Rufe nach einem NATO-Austritt lauter. Der Austritt aus der EURO-Zone wurde inzwischen von beiden Rändern ausgeschlossen, doch bleibt abzuwarten, ob das strategische Schachzüge sind und die Debatten nur bis nach der nächsten Präsidentschaftswahl im Jahr 2027 aufgeschoben sind.
Schwachpunkt Staatsverschuldung
Seit Amtsantritt ist Macron um eine Konsolidierung des Staatshaushaltes bemüht. Das zeigt sich durch das streng geplante Sparprogramm, bspw. mithilfe teils stark umstrittener Vorhaben, insbesondere der Umsetzung der Rentenreform. Auch stehen in naher Zukunft weitere Sparmaßnahmen auf dem Plan, die Brüssel den Franzosen auferlegen wird, was innenpolitisch betrachtet zu weiteren Kürzungen und Einsparungen und damit zu erneuten Spannungen in der Gesellschaft führen dürfte.
Sowohl RN als auch NFP hatten angekündigt, mit Machtübernahme im Parlament die hart erkämpfte Rentenreform zurückzunehmen. Das allein würde die Staatsausgaben deutlich erhöhen und zu neuen Schulden führen. Das Linksbündnis hatte neben der Rücknahme der Rentenreform mit dem Einfrieren der Preise für Nahrungsmittel und Energie, einer Erhöhung des Wohngeldes und eine Ausdehnung des öffentlichen Dienstes bereits weitere zahlreiche kostspielige Maßnahmen angekündigt, die sich ihren eigenen Angaben zufolge in den ersten zwei Jahren auf 125 Milliarden Euro belaufen sollen, eine Summe, die von Experten als nicht ausreichend eingestuft wird.
Dabei ist nicht zu vergessen, dass Frankreichs Staatsverschuldung in den letzten Jahren immer weiter zugenommen hat und aktuell bei etwa 110% des BIP liegt, und diese nach aktuellen EU-Richtlinien durchschnittlich um 1% pro Jahr reduziert werden müsste. Da das Haushaltsdefizit mit 5,5% (Stand Ende 2023) deutlich über der von der EU festgesetzten 3%-Grenze des BIP liegt, müsste es in Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums auf 1.5% gesenkt werden, um ein gewisses Depot für stagnierende bzw. rezessierende Perioden anzulegen. Frankreichs Zahlen sind demnach aktuell schon nicht EU-konform und zusätzliche Ausgaben könnten sich nicht nur auf Frankreich, sondern auf die gesamte EU-Zone auswirken, insbesondere Deutschland, das für andere EU-Länder im Extremfall mithaftet bzw. mit Garantien einspringen müsste, was aktuell sowohl politisch als auch finanziell schwer umsetzbar wäre, da auch Deutschland Probleme hat, einen verfassungsgemäßen Haushalt aufzustellen. Linkspopulisten rund um Mélenchon als bekennender EU-Gegner werden sich kaum den EU-Regeln beugen. Einerseits aus altermondialistischer Überzeugung heraus, andererseits aus dem Bewusstsein heraus, dass Frankreich als zweitgrößte Volkswirtschaft nach Deutschland zu wichtig ist und kaum von der EU fallen gelassen würde.
Denn trotz des aktuellen Kurses auf eine konservativ geführte Regierung werden sich die Mehrheitsverhältnisse bemerkbar machen. Die Opposition wird nicht klein beigeben. Dem Konzept »Europa« stehen keine rosigen Zeiten bevor, weder in Hinblick auf die deutsch-französische »Freundschaft«, noch in Bezug auf ein (inner)europäisches Zusammenwachsen.
Mit Macron ist der Kurs eindeutig: Ein souveränes Europa als Schlüsselkonzept
Schon Charles de Gaulle — Macher der Grande Nation — war kein Verfechter einer starken, übergreifenden Kommission, sondern sprach sich für eine Umwandlung der EU (damals Europäische Gemeinschaften) in einen Staatenbund aus. Und auch Emmanuel Macron strebt eine Vorreiterrolle seines Landes in Europa und der Welt an. Das hat er außenpolitisch besonders im Krieg zwischen Russland und der Ukraine mehrfach deutlich gemacht.
Bereits de Gaulle plädierte für eine Europäische Gemeinschaft im Sinne eines Staatenbundes, die auf der Idee des Paneuropas aus den 1920er Jahren beruhte, die »Vereinigten Staaten Europas« als Antwort auf den Totalitarismus und als unabhängige Militärkraft, als Gegengewicht und nicht als weitere Basis in einem transatlantischen Verhältnis. Er sprach sich schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg für ein starkes Frankreich in einer Führungsrolle innerhalb eines »Europe des États«, eines »Europas der Nationalstaaten, das sich vom Atlantik bis zum Ural« erstrecken würde und damit die Sowjetrepubliken einbeziehen.
Der Nationalstaat entstand während der Französischen Revolution und beschreibt die Idee der souveränen Nation, also ein selbstbestimmtes Volk, dessen Bürger im ursprünglichen Sinne demselben Kulturkreis angehören, also einer Gesellschaft, in der eine Homogenisierung von Sprache, Lebensform und Tradition vorherrscht, was heutzutage dem Diversitätsgedanken gegenübersteht und nicht mehr vereinbar scheint, daher neu überdacht werden muss, um in der aktuellen Zeitgeschichte als Konzept noch funktionsfähig zu sein. In der Politik fungiert im Nationalstaat die Volkssouveränität als demokratisches Element, das besonders durch eine vielfältige Parteistruktur zum Ausdruck gebracht wird. De Gaulle trat für ein zwischenstaatliches Europa ein, ein Europa, das dem Beispiel der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) oder der Vereinten Nationen (UN) folgend intergouvernemental funktioniert. Die Europäische Union in ihrer aktuellen überstaatlichen Funktion lehnten er und seine Nachfolger ab. Europa galt für sie als Zweckbündnis, das jedoch nicht die Souveränität der einzelnen Staaten untergraben sollte.
Im Jahr 1950 schlug der damalige frz. Premierminister René Pleven eine staatenübergreifende Armee und somit die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vor, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl daran hindern sollte, der 1949 gegründeten NATO beizutreten als auch daran, erneut eine eigene Armee zu bilden. Unter Führung eines europäischen Oberkommandos und in enger Zusammenarbeit mit dem transatlantischen Bündnis sollten Frankreich und die weiteren Mitgliedstaaten hingegen ihre jeweilige nationale Armee beibehalten, in Hinblick auf eine mögliche Abwehr außerhalb der europäischen Grenzen. Der »Pleven-Plan« scheiterte 1954 letztlich an den Franzosen selbst, da eine erstarkt gaullistische Regierung in der Nationalversammlung dem Vertrag nicht zustimmte, aus Besorgnis über einen möglichen Verlust der eigenen Souveränität, einer vermeintlich politischen Entspannung mit Blick auf die Sowjetunion nach dem Tod Stalins 1953 sowie aus Angst einer Wiederbewaffnung Deutschlands zu diesem Zeitpunkt.
Als Reaktion auf das Scheitern der EVG und dem folgenden NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zementierte sich ein Gegenpol in der Weltordnung mit der Unterzeichnung des Warschauer Paktes 1955 auf Initiative der UdSSR, der eine Verteidigungsallianz zwischen den sozialistischen Staaten der Sowjetunion, der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und 6 weiteren ost- und südosteuropäischen Ländern beschließt. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem daraus resultierenden Ende des Kalten Krieges hebt sich 1991 der »Eiserne Vorhang«.
Die Sicherheits-und Verteidigungspolitik hat sich innerhalb der Europäischen Union weiterentwickelt und die Entwicklung zeigt ein Interesse an einer langfristig zusammen wachsenden politischen Union, die sämtliche Bereiche abdeckt. Im Jahr 2017 wurde die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) und der 26 der 27 Mitgliedstaaten angehören, um eine weiterführende Arbeit innerhalb der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), die wiederum ein Hauptbestandteil der seit 1992 aktiven Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) darstellt, die allen Mitgliedstaaten das gleiche Entscheidungsgewicht erteilt.

Auch Emmanuel Macron weicht im Kern nicht von der Idee ab, Frankreich in einer starken Führungsrolle innerhalb Europas zu profilieren. Das zeigt sich besonders in der Unterstützung der Ukraine während des Invasionskrieges, der im Februar 2022 mit dem Einmarsch russischer Truppen begann, nicht nur durch finanzielle Hilfe, sondern auch durch Waffenlieferungen und bei der er sogar das Entsenden von Bodentruppen in das Kampfgebiet ins Gespräch bringt. Macron hat hier schnell eine führende Rolle eingenommen. In allen militärischen Fragen ist Deutschlands Politik zurückhaltender, aber über ein starkes, geeintes Europa, das Sicherheit schafft, sind sich beide Länder einig.
Einen seit langem propagierten Austritt aus der NATO wird es so schnell weder mit einer rechts- noch links-orientierten Regierung in Frankreich geben, obwohl hier die Neigungen besonders des RN unter Le Pen und des LFI unter Mélenchon schon seit langem dahin tendieren, einen stärkeren Nationalstaat und eine komplette Abkopplung des Translatlantikbündnisses fordern.
Außenpolitisch behält der Präsident weitreichende Befugnisse auch während einer in seiner Macht geteilten Regierung, denn die Verfassung bestimmt, dass er internationale Verträge verhandelt. Viele Staatsoberhäupter sind dem Vorbild de Gaulle treu geblieben, nahmen eine starke Führungsrolle ein und verfolgten eine strikte Durchsetzung nationaler Interessen in der Europapolitik, dem Rang Frankreichs in der Welt eine hohe Wichtigkeit beimessend. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern setzt Macron dennoch auf Verständigung und Gleichgewicht und treibt die Idee voran, Europa zu einem politischen Bund weiterzuentwickeln. Voraussetzung dabei ist ein stabiles und demokratisches Frankreich, denn eine starke Regierung in Paris ist auch eine entscheidende Stütze, um die Stabilität der EU zu garantieren. Macrons Interessen und Vorschläge könnten die Entwicklung Europas stark vorantreiben. Er baut auf eine gewisse Balance zwischen den führenden Nationen, allen voran Deutschland, denn ihm ist die Bedeutung dieser Zusammenarbeit bewusst. Auch umgekehrt ist das deutsch-französische Bündnis von entscheidender Bedeutung, um die Zeitenwende auszubauen. Deutschland gilt nicht als Vorreiter, wenn es darum geht, neue politische Ideen zu entwickeln und voranzutreiben, es benötigt starke Partner. Auch die Debatte um nukleare Waffen ist brandaktuell, und Frankreich wird auch damit eine bedeutende Rolle zuteil, auch wenn Macron generell auf Abrüstung setzt.
Im Jahr 2020 gab es unter Emmanuel Macron und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel erste konkrete Pläne für eine Fiskalunion in der EU, um eine Konsolidierung des Staatenbundes voranzutreiben. In weiten Teilen der EU stieß die als »ungerecht verteilte« Lösung auf Ablehnung und es konnten sich darüber hinaus keine weiteren diesbezüglichen Vorschläge durchsetzen. Es ist ein Ansatz, jedoch ohne eine politische Vereinigung nicht ausreichend, wenn es darum geht, ein emanzipiertes Europa zu entwickeln, vor allem mit Blick auf ein starkes, autonomeres Sicherheitskonzept.
Der scheidende US-Präsident Joe Biden ist wohl der letzte »echte« Verfechter des Transatlantischen Bündnisses, wie Deutschland es bisher kannte. Unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA im November 2024 und einer damit einhergehenden möglichen Schwächung bzw. einem Bruch in der Kontinuität der politischen Beziehungen ist es unumgänglich, die innereuropäischen Sicherheits- und Verteidigungsallianzen zu stärken und parallel zum transatlantischen Bündnis zeitgemäß und eigenständig weiterzuentwickeln. Weitere, direkt und indirekt miteinander verbundene Knotenpunkte aus überstaatlichen Bestrebungen, sowohl auf wirtschaftlicher, steuerlicher als auch sicherheitspolitischer Ebene sollen ein intaktes europäisches Netz stärken und erweitern, bis hin zu einem auch politisch vereinten Europa. Macron an Frankreichs Spitze ist einer der wichtigsten Motoren bei der Umsetzung dieser Vorstellung.
Die französischen Präsidenten sind dafür bekannt, sich mit Großprojekten im Laufe ihrer Amtszeit selbst Denkmäler zu erschaffen. Diese sind meist kultureller Natur, aber auch politische Prägungen waren schon zu erkennen. Valéry Giscard d’Estaing war z.B. Begründer der regelmäßigen Abhaltung von Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft, aus denen später der Europäische Rat hervorging.

Macrons kulturelles Vermächtnis werden neben dem Wiederaufbau der 2019 zu großen Teilen zerstörten Kathedrale Notre-Dame de Paris die Olympischen Spielen 2024 darstellen, die nach 1900 und 1924 zum dritten Mal in Paris stattfanden und zu einem großen Erfolg wurden. Die Bestrebungen nach einem souveränen Europa und das Vorantreiben eines weiteren Zusammenwachsens der europäischen Staaten haben das Potential, sein politisches Erbe zu werden. Macron beweist Führungsstärke auch auf europäischer Ebene, was sowohl im Russland-Ukraine-Krieg als auch im Konflikt im Nahen Osten zu erleben war und ist.
Ein starkes Sicherheitsgefüge bedeutet für ihn nicht ausschließlich darin, Waffen zu liefern, sondern es sind politische Antworten. Die Diplomatie darf nie aus den Augen verloren werden, wie jüngst von Macron hervorgehoben in der Debatte um erneute Waffenlieferungen an Israel. Er war auch der letzte Europäer, der nach Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar 2022 noch persönlich mit Wladimir Putin gesprochen hat, bevor jegliche Kontaktaufnahme von russischer Seite abgelehnt wurde. Im derzeitigen politischen Chaos und konfrontiert mit großer Ablehnung innerhalb der französischen Gesellschaft steht dieses Erbe jedoch auf dem Spiel. Und ohne Frankreich als zweite große Stütze in Europa besteht in Deutschland die Gefahr, sich wieder verstärkt auf das transatlantische Bündnis zu verlassen. Nicht nur in Hinblick auf die kommende Präsidentschaftswahl in den USA könnte es problematisch werden, wenn Deutschland die eigene Sicherheitspolitik nicht überdenkt bzw. keine starken Partner innerhalb der europäischen Kooperation an seiner Seite weiß.
Im Gegenzug ist die Souveränität Europas unumgänglich für ein starkes Frankreich, wie von Macrons Bewegung stets betont wird. Und langfristig gibt es nur zwei Szenarien: Die EU wird entweder eigenständig oder überflüssig.
Die Demokratie auf dem Prüfstand
Sobald der Graben zwischen Ansichten und Vorstellungen innerhalb der Gesellschaft und den von der Staatsführung getroffenen Entscheidungen unüberwindbar werden, ist eine Revolution in Frankreich nicht mehr wegzudenken. Die Volksherrschaft als Hauptmerkmal der Demokratie wurde hier in der Vergangenheit oft wortwörtlich genommen. Das Volk hat seinen Staat von der Straße aus (mit-)bestimmt. In der aktuellen Konstellation stoßen die Bürgerinnen und Bürger mit diesen Mitteln jedoch hauptsächlich auf taube Ohren. Wie lange kann diese Dynamik noch anhalten? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Akzeptanz der Macronie ausgereizt und nur noch der Autokrat im Präsidenten gesehen wird? Und was müsste getan werden, damit das Verständnis im Volk wieder zunimmt? Entscheidungen, wenn auch teils als hart oder sogar ungerecht empfunden, längerfristig und objektiver betrachtet werden können und nicht ausschließlich als Einschränkungen, sondern als Wegweiser und notwendige Vorbereitung für eine besser funktionierende Struktur identifiziert werden können?
Das politische System Frankreichs ist im Grunde darauf ausgerichtet, klare Mehrheiten zu schaffen. Die aktuelle Situation kann davon nicht profitieren. Die Linken als stärkste Kraft nach den Wahlen werfen dem Präsidenten nun vor, die Demokratie zu ignorieren. In Macrons Bewegung Ensemble schlägt das Pendel von der Mitte nach rechts bis zu den Republikanern und nach links bis zur Sozialistischen Partei aus. Erstere hatten vor den Neuwahlen eine Zusammenarbeit im Parlament noch kategorisch ausgeschlossen, letztere bleibt auch nach der Wahl dem NFP treu.
Der kürzlich ernannte Regierungschef stammt aus dem konservativ-republikanischen Lager und demnach nicht — einer sich in den letzten Jahrzehnten eingebürgerten Praxis entsprechend — aus dem stärksten Lager innerhalb der Nationalversammlung. Der NFP hatte bereits am Wahlabend angekündigt, alle Kandidierenden zu blockieren, die nicht aus ihren Reihen stammen. Der RN ließ verlauten, eine/n Kandidierenden aus dem linken Lager, vor allem der Partei LFI zugehörig, strikt abzulehnen. DIe Reaktion darauf war also hauptsächlich eine strategische, nicht nur kurz- sondern längerfristig ausgerichtet, um den Zentrumsblock zu erhalten und zu stärken.

In den letzten 15-20 Jahren konnte man eine klare Rechtsverschiebung im politischen Diskurs und in den Wählerpräferenzen beobachten, die sowohl mit einem verstärkten Fokus auf soziokulturelle und identitäre Themen wie Einwanderung und Integration einhergeht, als auch mit einem Bedeutungsverlust in Bezug auf sozial-wirtschaftliche Diskussionsthemen, was Macrons zentrales Bündnis bisher nicht abzufangen wusste, ohne die klare Trennlinie zwischen rechts und links wieder stärker hervortreten zu lassen.
Die Brandmauer steht — noch!
Es ist in den letzten Jahren schon fast ein ungeschriebenes Gesetz in Frankreich geworden, dass alle demokratischen Parteien ihre Wählerschaft dazu aufrufen, gegen den RN zu wählen, sollte dieser den zweiten Wahlgang erreichen, um dem bestplatzierten demokratischen Kandidaten den Vortritt zu lassen, und somit eine Brandmauer gegen Rechts zu errichten, in Frankreich bekannt als barrage, dem sogenannten Staudamm, um die anfällige Demokratie zu beschützen und dagegenzuhalten, wenn sie bedroht wird. Diese Strategie scheint noch einmal aufgegangen zu sein, die sogenannte republikanische Front bleibt vorerst mithilfe des im Juli 2024, kurz nach dem ersten Wahlgang, gegründeten NFP bestehen.
Einerseits fördert ein System mit relativer Mehrheit im zweiten Wahlgang Parteien wie den RN, weil regional schon sehr starke Hochburgen ausgeprägt sind. Andererseits ist es die Mehrheitswahl, die eine Dominanz von Rechtsaußen bislang verhinderte und den RN zahlreiche Sitze in der Nationalversammlung kostete. Um eine absolute Mehrheit des RN zu verhindern, haben in diesem zweiten Durchgang der Parlamentswahlen viele Abgeordnete ihre Kandidaturen zurückgenommen, um die demokratischen Parteien zu unterstützen. Linke Parteien wie z.B. LFI haben die Wähler abermals dazu aufgerufen, keine weitere Stimme an das Rechtsaußen-Lager zu geben. Diese Art und Weise des »Zusammenraufens« hatte in dieser Weise auch bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen funktioniert.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Art von Rettungsversuchen nun ausgereizt ist. Der Schutzwall der republikanisch-demokratischen Front bröckelt, denn die Ursachen für das Erstarken populistischer Parteien werden von der regierenden Politik nicht ausreichend oder gar nicht behandelt. Die Bürger stehen dem gesamten System skeptisch gegenüber, fühlen sich von der Staatsführung ignoriert, die allgemeine Unzufriedenheit nimmt stetig zu, im Land ist oft zu hören: »Frankreich ist auch nicht mehr das, was es einmal war.«

Marine Le Pen und ihre Partei wissen diesen Unmut für sich zu nutzen und stellen die identitären Kernthemen ins Zentrum ihres Wahlkampfes. Auch sieht sie ihre Partei im aktuellen Kontext als stärkste Kraft, neben den von ihr bezeichneten »unnatürlichen« Bündnissen, denn die Ergebnisse von NFP und Ensemble sind mithilfe der Bildung von Blöcken möglich gewesen, die aus vier oder mehr Parteien bestehen, wohingegen der RN als einzige Partei ohne Allianzen — abgesehen von dem Zusammenschluss mit dem rechten Rand der Republikaner, geführt von Eric Ciotti und damit einigen wenigen Abgeordneten — mit 126 eine hohe und damit die einzige dreistellige Sitzanzahl erreichte, was in dieser Rechnung die Mehrheit in der Nationalversammlung bedeutet hätte.
Und obwohl es eine rechtmäßige und weithin akzeptierte Praxis darstellt, Bündnisse zu formen, so ist die Aussage der »Unnatürlichkeit« nicht falsch, denn die Parteien passen nicht wirklich zusammen, sondern haben sich hauptsächlich zu einem NFP zusammenführen lassen, um sich gegen die rechtsextremen Kräfte aufzubäumen.
Zusätzlich zur allgemeinen Verdrossenheit wird es den Bürgern tatsächlich aber auch unmöglich gemacht, kleineren Parteien ihre Stimme zu geben, um ein anderes Zeichen zu setzen. Die Wählenden fühlen sich gewissermaßen gezwungen, in der Stichwahl ihre Stimme an Parteien zu übertragen, die sie nur wählen, um das »kleinere Übel« zu erzielen oder »Schlimmeres zu verhindern«. Es ist für viele keine freie Wahl mehr, sondern eine Mischung aus Taktik und Angst, wenn es nur noch darum geht, antidemokratischen Parteien keinen größeren Raum zu bieten, dafür jedoch seine Prinzipien zu verraten bzw. hinten anzustellen. Das führt zu noch größerer Ablehnung, da sich die Bürgerinnen und Bürger auch hierbei übergangen fühlen.
Es steht die Frage im Raum, ob Wahlrecht und Verfassung in ihrer aktuellen Form noch Bestand haben, wie damit umgegangen wird und was die Bevölkerung damit noch anfangen kann. Für das Staatsoberhaupt ist es seit Einführung unter Charles de Gaulle möglich, sie weitreichend zu interpretieren und für die Umsetzung der Entscheidungen auch das Parlament zu umgehen. Dieses Mittel wurde vor allem in den letzten Jahren vermehrt eingesetzt und vergrößerte nicht nur den Graben zwischen Gesellschaft und Staatsführung, sondern verstärkte auch die Ungleichheiten innerhalb der Bevölkerung.
Die aktuelle französische Verfassung folgte auf die der Vierten (IV.) Republik (1946-1958), die u.a. daran scheiterte, dass der Halt in der Bevölkerung fehlte für ein damals in Frankreich noch typisches Vielparteiensystem mit Verhältniswahlrecht, indem apparentements, Listenvereinigungen nicht unüblich waren, d.h. ein Zusammenschluss aus mehreren Parteien, um sich als gemeinsames Bündnis aufzustellen. In Deutschland ist das im heutigen Wahlrecht noch in einigen Bundesländern auf Kommunalebene zu beobachten, auf Landes- bzw. Bundesebene jedoch verboten.
Es können gewisse Parallelen zur aktuellen Situation gezogen werden, denn in einem Mehrheitswahlrecht kommt für die Franzosen in der jetzigen Situation das Unverständnis hinzu, dass der Wählerwille ignoriert wird und nicht das Bündnis an der Regierung ist, das die Mehrheit erzielt hatte. Diejenigen, die das Linksbündnis gewählt haben, fühlen sich damit verraten. Und damals wie heute wird die Demokratie in Frage gestellt und daran gezweifelt, ob die Regierungsbildung wirklich von den Wählenden bestimmt wird. Ausgeblendet scheint dabei oft zu werden, dass die führende Stimme dieses Linksbündnisses, Jean-Luc Mélenchon, zu denjenigen gehört, die auch für europaskeptische, deutschlandfeindliche und teils antisemitische Äußerungen bekannt ist und damit den rechtsextremen Kräften auf der gegenüberliegenden Seite in nichts nachsteht. Auch bleibt abzuwarten, ob das bereits in sich zerstrittene Bündnis über einen längeren Zeitraum Bestand hat oder ob die Mauer nicht einzureißen droht. All das ist zweifelsohne von der Staatsführung bedacht worden, bevor es zur Ernennung des neuen Regierungschefs und der darauf folgenden Regierungsbildung kam. Fraglich ist jedoch, ob diese Strategie von der Bevölkerung getragen wird, auch wenn die Demokratie auf dem Spiel steht. Was bedeutet Demokratie für die Menschen und was ist sie ihnen wert?
Was schon de Gaulle zum Verhängnis wurde, zeigt sich auch heute wieder, und das mit einer Wucht, die Frankreich lange nicht mit dieser Intensität und Ausdauer erfahren hat. Wenn die Bürger und deren Bedürfnisse nicht gehört werden, und die Autokratie nicht nur in Krisenzeiten, sondern grundsätzlich über die Demokratie gestellt wird, nimmt die Revolte ihren Lauf. Wenn auch weniger blutig als zu Zeiten der Revolution Ende des 18. Jhs., zeigt das Volk klar und deutlich, wann die Akzeptanz an ihre Grenzen stößt.
Die Menschen haben den Eindruck, dass Politik nicht für sie gemacht wird. Die Ängste der Bürgerinnen und Bürger müssen nicht nur erkannt, sondern transparent thematisiert werden und es müssen zeitnah Lösungen gefunden und umgesetzt werden. Und wie im Sport vereinfacht, aber doch deutlich zu erkennen, gibt es ähnlich dem Prinzip »Messi« eine klare Regierungsverantwortung, die liefern kann und muss. Sowohl die Führung, als auch das eng mit ihr verbundene Zusammenspiel innerhalb des gesamten Systems entscheiden über Sieg oder Niederlage. Ein grundsätzliches Überdenken des Systems ist längst überfällig, in Zeiten einer instabilen Regierung jedoch ein undenkbares Vorhaben. Hauptaufgabe sollte jedoch sein, die Demokratie in Bevölkerung und Politik zu stärken.
Auch der Jurist und ehemalige Professor für Recht Dominique Rousseau warnt vor einer kommenden Revolution innerhalb der Gesellschaft, sollte das System nicht antiautoritärer gestaltet werden. Er ist Verfechter der Verfassungsgerichtsbarkeit, die bspw. in Deutschland mit sehr umfangreichen Kompetenzen, einschließlich einer umfassenden konkreten Normenkontrolle fest im Grundgesetz verankert ist und im Sinne eines demokratischen Entscheidungsprozesses wirkt. Trotz einer Verfassungsänderung im Jahr 2008 auf Veranlassung des damaligen Präsidenten Jacques Chirac, die dem Bürger den Zugang zur Verfassungsjustiz durch das mit Ausnahme von Frankreich in ganz Europa praktizierte Trennungsmodell ermöglichen sollte, herrscht in Frankreich vorwiegend eine abstrakte Normenkontrolle vor, die erst auf Veranlassung von Legislative bzw. Exekutive erfolgt und unabhängig von einem konkreten Rechtsstreit durchgeführt und somit nicht mit einem Antragsgegner konfrontiert wird.
Die komplette Verfassung umzuwerfen, erfordert einen radikalen Umbruch des Systems als Ganzes, der nicht über Nacht geschehen kann. Und gerade ein System rund um den Kern der zentralisierten, einer teils monarchisch wirkenden Machtausübung wird sich schwer tun, diese Macht neu zu verteilen. Die Bürger suchen nach mehr Transparenz und fordern, in Entscheidungen einbezogen zu werden. Das widerspricht einer Verfassung, die ausschließlich auf die Autorität der vom Volk Gewählten, den élus, baut, die nach den Wahlen das Monopol ausleben, Entscheidungen treffen zu können, ohne näher auf den Wählerwillen einzugehen. Wenn die Übereinstimmungen zwischen Volks- und Staatswillen immer kleiner werden, die Bürgerinnen und Bürger keine Veränderung zum autokratischen Führungsstil sehen, nicht wieder stärker eingebunden werden in das Politikgeschehen, zerfällt die Gesellschaft und mit ihr nach und nach die Demokratie.

Die Französische Revolution ist hauptsächlich positiv konnotiert, und es wird meist nicht bedacht, dass das Volk kurz darauf erst einmal in einer Diktatur unter den einstigen Revolutionsanführern leben musste. Die Jakobiner stellten den radikalen Teil der Revolutionsbewegung dar, wollten die Monarchie komplett und auf gewaltsame Weise abschaffen und somit den Weg zur Republik frei machen. So entstand unter der Führung von Maximilien de Robespierre eine kurze aber opferreiche Schreckensherrschaft, la Grande Terreur, die alle ursprünglichen Freiheitsideale verriet und sich bis zu Robespierres Hinrichtung zwei Jahre später durch Unterdrückung und Tötung sämtlicher kontrarevolutionärer Gegner und einer zentralistischen Wirtschaftspolitik auszeichnete.
Die Errungenschaften der Freiheit, Unabhängigkeit und Emanzipation der Bevölkerung werden dennoch oft mit der sogenannten Jakobinermütze in Verbindung gebracht, die nicht nur ein Symbol für republikanische Demokratie innerhalb Europas darstellt, sondern auch in lateinamerikanischen Staaten ihre Bedeutung bekam. So ist sie u.a. in den Landesflaggen Nicaraguas und Paraguays, bis 1862 auch in Argentiniens abgebildet und ist nach wie vor auf zahlreichen Provinz-Wappen in Argentinien, Bolivien oder Kolumbien wiederzufinden.

Jüngste Anerkennung fand das Symbol in der Wahl des Maskottchens der Olympischen und Paralympischen Spiele im Sommer 2024, ursprünglich als Phrygische Mütze aus der Antike bekannt, und später zuerst von den Jakobinern wieder aufgegriffen und bis heute präsent.
Es stellt dabei sehr gut die konfliktive Geschichte dar, die Zerrissenheit des französischen Volkes im Laufe der Geschichte widerspiegelt, seine zahlreichen Konfrontationen mit den Staatsoberhäuptern, die Wechselwirkungen von gemäßigten und radikalen Revolutionen und Staatsformen, und damit auch die politische Weiterentwicklung von Volk und Nation. Ein zusätzlicher Kontrast zu den Deutschen und der Verarbeitung bzw. Bewältigung der eigenen Geschichte.
In Frankreich ist auch die widersprüchliche und oft blutige Vergangenheit kein Grund dafür, nicht stolz auf das eigene Land sein zu können, sondern die französische Erinnerungskultur bleibt stets zugänglich und erhält das Vergangene auch anhand von Sinnbildern auf greifbare Weise aufrecht und manifestiert es immer wieder im alltäglichen und politischen Leben.
Eine Erinnerungskultur zu praktizieren bedeutet eine stetige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Einige Stimmen sprechen auch aktuell von jakobinischen Regierungsverhältnissen in der Macronie. Das Volk und den Wählerwillen zu ignorieren wird jedoch keine weitere Akzeptanz fördern, sondern einen stetig weiter wachsenden Unmut provozieren. Das wird sich nicht nur in Protesten bis hin zu Ausschreitungen, sondern sehr wahrscheinlich auch in den Resultaten der kommenden Präsidentschaftswahl niederschlagen. Um die ursprüngliche Vision weiter umzusetzen, die Demokratie zu stärken und das Verhältnis von Staatsführung und Gesellschaft wieder in Einklang zu bringen, müssen die Bürgerinnen und Bürger wieder stärker eingebunden werden, ihnen müssen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten geboten werden, die Transparenz muss erhöht und Politik wieder zugänglicher gemacht werden.
Das Ende der republikanischen Monarchie?
Charles de Gaulle hat den Zwiespalt erkannt und sich selbst dem Willen des Volkes beugen müssen. Er gab den Bürgerinnen und Bürgern eine Stimme und hat die damit einhergehenden Konsequenzen getragen.
Anhand des Beispiels Frankreich kann die Eigenständigkeit des semipräsidentiellen Regierungssystems als Systemtyp in Frage gestellt werden, weil es keine kontinuierliche, von parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen unterscheidbare Regierungsführung gibt. Vielmehr alternierten in Frankreich der präsidentielle Regierungmodus bei parteipolitischer Übereinstimmung von Präsidentenlager und Parlamentsmehrheit und Phasen einer parlamentarischen Regierungspraxis in Zeiten der Cohabitation ab. Macrons Ansatz, mit parteiübergreifenden Bündnissen zu regieren stellt zudem das klassische Mehrheitswahlsystem in Frage, das wiederum auch durch Maurice Duvergers geprägte Theorie zu einem Zweiparteiensystem im Unterschied zum Verhältniswahlrecht mit einer Fragmentierung zahlreicher Parteien führt. Es scheint ein Modernisierungsversuch des Systems, ohne die Grundideen komplett in Frage zu stellen, ein Versuch, das System, das sich in der IV. Republik Frankreichs nicht bewährt hat, in der heutigen Zeit neu zu interpretieren. Macrons konstitutionelle Reformvorhaben wie eine Annäherung an das Verhältniswahlrecht in der Nationalversammlung sowie die Beschränkung von Mandaten der Parlamentarier und Kommunalpolitiker laufen bisher allerdings ins Leere.
Das Wahlsystem in Frankreich unterscheidet sich wie bereits erwähnt von dem in Deutschland, denn seit den 1950er Jahren regiert in der Bundesrepublik das Verhältniswahlrecht, was sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass die Wählerstimme mehr Gewicht bekommt, da sie die Anzahl der Sitze einer Partei direkt beeinflusst und auch kleine Parteien politisches Mitbestimmungsrecht erhalten, wodurch Minderheitsinteressen stärker vertreten werden können. Im Gegensatz zur Mehrheitswahl schafft die Verhältniswahl keine klaren Mehrheiten, sondern bedeutet eine große Aufsplitterung in der Parteienlandschaft, was die Bildung von Koalitionen wahrscheinlicher macht. Kleine Parteien können im Zusammenschluss mit größeren damit ihre Vorhaben eher durchsetzen als das von den Wählenden gewollt war, und die Leistung einzelner Parteien wird für sie undurchsichtiger. Eine Auffächerung in zahlreiche Splitterparteien bringt jedoch selten Führungsansprüche noch -fähigkeiten mit sich.
Frankreichs Führungsstil mit zentralem Machtgefüge hat sich vor allem in Krisenzeiten als Vorteil erwiesen und durch effiziente Entscheidungswege ausgezeichnet, während im konsensorientierten Föderalsystem in Deutschland langwierig diskutiert wird, oft ohne Ergebnisse zu erzielen. In »normalen« Zeiten wirkt dieser Stil jedoch schnell autokratisch. Trotz der Bildung einer Bewegung über die strikte rechts-links-Linie hinaus herrscht unter Macron keine Koalitionspolitik im Unterschied zur Regierungspraxis in vielen anderen europäischen Ländern. Aber auch der Begriff Cohabitation ist hier nicht mehr passend. Die horizontale Demokratiestruktur mit klarer Gewaltenteilung steht hier einer vertikalen Machtausübung gegenüber, d.h. die Entscheidungsgewalt liegt in großen Teilen beim Staatsoberhaupt selbst. Das ließ sich bspw. während der Covid-19 Pandemie gut beobachten, denn nur ein kleiner Beratungsausschuss (Conseil de défense sanitaire) wurde unter Macrons Vorsitz in Gespräche einbezogen, letztendlich traf der Präsident die wichtigen Entscheidungen über Maßnahmen jedoch im Alleingang. Ein in einem föderalen Deutschland unvorstellbares Szenario, in Krisenzeiten dagegen ein durchaus hilfreiches Prinzip, um zeitnah Maßnahmen verabschieden zu können.
Starke Führungspersönlichkeiten haben sich in Deutschland rar gemacht. Was in Frankreich zunehmend für Verdruss sorgt, fehlt in Deutschland in vielen Bereichen. Und die Bevölkerung benötigt sowohl einen klaren Kurs als auch Entscheidungsträger, die sich nicht hinter dem System verstecken und damit aus der Verantwortung nehmen. Aus de Gaulles Vorstellungen ergab sich für den Präsidenten in Frankreich eine Rolle, die über seine in der Verfassung festgelegten Position überstieg und nicht nur die Kontrolle im außenpolitischen Zusammenhang, und hier besonders in der Sicherheits- sowie in der Europapolitik vorsah, sondern teils »suprapräsidentielle« Führungsstile hervorbrachte, wie bspw. unter Nicolas Sarkozy zu erkennen war, der sich stark in das Tagesgeschäft einmischte und damit über seine in der Verfassung vorgesehenen Befugnisse hinausging. Die Präsidenten beschäftigen sich normalerweise mit mittel- bis langfristigen Entscheidungsprozessen, die Regierungschefs konzentrieren sich vielmehr auf kurzfristiges Politikgeschehen. Sarkozy machte sich mit seiner Vorgehensweise nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich angreifbarer und konnte sich nicht mehr hinter der Regierung als Entscheidungsträger wegducken. In der derzeitigen Zusammensetzung der Regierung dürfte sich Macron hauptsächlich auf innenpolitische Bereiche konzentrieren, die seinen generellen Kurs beeinflussen, ansonsten wird sein Fokus verstärkt auf der Außenpolitik liegen, um seine Europa-Vision während der verbleibenden Amtszeit so weit wie möglich voranzutreiben.
Die Frankreich so häufig abgesprochene Kompromisskultur hat sich mit zahlreichen Koalitionsregierungen in Deutschland in den letzten 20 Jahren zwar durchgesetzt, birgt jedoch auch große Schwachstellen, wenn die Partner, die Kompromisse ebenso ignorieren und aneinander vorbei arbeiten, wie gegenwärtig zu beobachten. Eine nicht funktionierende Koalition erhöht das Risiko einer Regierungskrise, denn einfach betrachtet ist sie ein meist erzwungenes Gefüge. Und auch wenn man in Frankreich aktuell nicht von einer klassischen Koalitionsbildung reden kann, hat Macron mit seiner Bewegung das System in Frankreich in den letzten Jahren aufgelockert. Die Mitglieder seiner Partei dürfen bspw. verschiedenen republikanisch-demokratischen Parteien angehören. Auch wurden immer wieder neue Bündnisse geschlossen, inzwischen auch aus Notwendigkeit, ursprünglich aber aus dem Willen heraus, die harte Zwei-Fronten-Linie zu brechen und einen weitsichtigeren, umfassenderen und zukunftsorientierten Weg zu gehen. Das Konzept geht über den klassischen Koalitionsgedanken hinaus.
In der Politik wie auch in der Gesellschaft allgemein geht es darum, Allianzen zu bilden und zu stärken, um etwas zu erreichen, um vorwärts zu kommen. Aber das beinhaltet auch einen Brückenschlag zwischen Staatsführung und Bevölkerung. Es bedeutet, die Bürgerinnen und Bürger einzubinden, Politik transparenter und zugänglicher zu gestalten und Interesse wiederzubeleben bzw. überhaupt erst zu wecken, besonders auch bei jungen Wählenden.

Wenn man wie Angela Merkel eine All-Parteien-Kanzlerin dargestellt hat, ist die Enttäuschung umso größer, wenn dieses System nicht mehr funktioniert, wenn die Aktionen den Worten und der ursprünglichen Vision nicht folgen. Die Folge daraus ist eine wachsende Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Und wenn die Opposition keine echte Opposition mehr darstellt, bilden sich neue, aufgefächerte Gegenpole, die nach und nach an Bedeutung gewinnen, wenn die Hauptakteure keine Flexibilität zeigen, sondern an einem Kurs festhalten, der von der Bevölkerung mehrfach kritisiert wird, sichtbar an Wahlergebnissen und Unmut, der auf die Straße getragen wird. Diese wachsende Tendenz lässt sich gut an den Erfolgen der AfD ablesen.
Innerparteiliche Umstrukturierungen von Regierungsparteien sollten mit mehr Transparenz behandelt werden, damit die Bürger noch folgen können. Was in Frankreich zur Routine geworden ist, sorgt in Deutschland für Aufsehen. Sich aus Parteien zu lösen, neue zu gründen oder sich anderen anzuschließen bzw. neue Allianzen zu bilden ist aufgrund der unterschiedlichen Regierungs- und Wahlsysteme nicht der deutsche Normalfall in der Politik, sondern konzentriert sich bislang auf den Rand des Parteienspektrums. Als jüngste Beispiele im Jahr 2024 dienen die Gründung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) mit links-autoritären, pro-russischen Tendenzen und die der Kleinpartei WerteUnion (WU) rund um den ehemaligen Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, eine umstrittene Absplitterung der Unionsparteien, deren Ziel es ist, den konservativ-liberalen Kern eben dieser hervorzuheben und damit Wählende von CDU/CSU und AfD für sich zu gewinnen. Aufgrund von engen Kontakten zu AfD-Mitgliedern sowie kontroversen, teils antisemitischen Äußerungen wird Maaßen mittlerweile von der ihm ehemals unterstellten Behörde als rechtsextrem eingestuft. Die Entwicklung bleibt weiter abzuwarten, bislang zeigten sich bei den Landtagswahlen 2024 im Gegensatz zu dem BSW keine Erfolge. Frankreich und Deutschland haben hierbei bislang gemein, dass es unmöglich scheint, funktionierende Bündnisse am rechten Rand zu bilden. Das trägt dazu bei, dass ein vollständiger Rechtsruck (noch) ausbleibt. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Entwicklung innerhalb der deutschen Parteienlandschaft auf die Machtverhältnisse und die Politiklandschaft auswirken wird.
In Frankreich hat der RN stetig an Bedeutung gewonnen und ist aktuell als drittstärkste Kraft im Parlament vertreten. Marine Le Pen sieht sich und ihre Partei entgegen der öffentlichen Meinung mit diesem Ergebnis keineswegs als Verlierer der Wahl, sondern weiter bestätigt auf dem Weg in Richtung Präsidentschaftswahlen, denn es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der Staudamm brechen würde, denn »was zählt, ist das Wasser, das dagegen drückt«. Je wackeliger das Regierungskonstrukt, desto höher die Chancen auf ein Frankreich unter einer rechtsextremen Regierung von Marine Le Pen, denn ihrer Meinung nach wurde der Wahlsieg für den RN nur durch einen erzwungenen, »unnatürlichen« Zusammenschluss linker Parteien verbaut und somit nur aufgeschoben ist. Für sie ist klar, dass der RN in der Nationalversammlung die stärkste und damit einzige alleinstehende Partei mit einer hohen Anzahl von Sitzen in der Nationalversammlung vertreten ist.
Die Ernennung des derzeitigen Premierministers und die folgende Regierungsbildung mussten eine Weitsicht haben, die sowohl innenpolitische als auch außenpolitische Vorstellungen einbezieht, um den Kurs der Macronie zu erhalten, bis sich die Karten spätestens in den Wahlen zur nächsten Präsidentschaft neu mischen. Mit der gegenwärtigen Regierung ist es unwahrscheinlich, dass der Präsident die Nationalversammlung erneut auflöst, wozu er nach Ablauf eines Zeitraums von mindestens 12 Monaten die Möglichkeit hätte. Es ist essentiell, eine funktionierende Regierungsarbeit zu ermöglichen und dabei Misstrauensvotum von NFP und RN zu vermeiden. Aktuell ist zusätzlich alles darauf ausgelegt, einen Zusammenschluss beider Fronten zu verhindern. Denn mit einer oppositionellen Mehrheit in der Nationalversammlung steigt nicht nur das Risiko auf vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Die Möglichkeit, den Präsidenten abzusetzen ist nicht ausgeschlossen und das Parlament kann diese mit einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen umsetzen, indem es als Gericht zusammentritt.
Allerdings ist dies laut Verfassung ausschließlich realisierbar »im Falle eines Verstoßes gegen seine Pflichten, der mit der Ausübung seines Amtes offensichtlich unvereinbar ist«. Es soll auch die Möglichkeit verhindert werden, dass die Regierung von einer Mehrheit in der Nationalversammlung durch ein Misstrauensvotum gestürzt wird, was im Krisenfall ein denkbares Szenario ist. Hauptanliegen ist jedoch die Gewährleistung einer möglichst stabilen Regierungsarbeit. Zu beobachten bleibt dabei, wie sich neben dem RN der der NFP in der ihm auferlegten Oppositionsrolle verhält. Eine zerstrittene Linke würde die Staatsführung zusätzlich schwächen, die Bevölkerung verunsichern und dem rechten Rand erneut mehr Gewicht verleihen. Die Tendenzen der letzten Jahre zeigen deutlich, dass die Gefahr einer rechtsextremen Regierung in der politischen Realität Frankreichs höher ist als je zuvor.
Auch ohne Mehrheit im Parlament wird Macron in seiner Rolle als Präsident weiterhin als starker Pro-Europäer das außenpolitische Geschehen lenken. Und mit der aktuellen Regierungsformation wurde Zeit gewonnen. Der Versuch, die harte links-rechts-Linie zu brechen und die Mitte zu mobilisieren und zusammenzuschweißen seine Bewegung auch auf regionaler Ebene zu festigen und damit ein neues Denken in den Köpfen der Menschen zu verankern, die fest verwurzelten Alt-Parteien zu entthronen und die Wählenden langfristig zu überzeugen, ist Macron bislang nicht gelungen. Die politische Realität zeigt gegenläufige Tendenzen. Die Hauptaufgabe sollte deshalb darin bestehen, das Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen, um die Macht der entgegengesetzten Fraktionen zu schwächen, aber dennoch eine stabile Politik zu erreichen und die Parteienlandschaft nicht nur durch Spaltungen und Umformierungen zu gestalten. »Angstwahl« oder »Gegenwählen« sind keine geeigneten Mittel, um den Menschen eine neue Überzeugung mitzugeben. Denn Angst ist meistens kein guter Ratgeber.
Eine Großzahl der Wählerinnen und Wähler war noch einmal dazu bereit, taktische Entscheidungen über ihre eigentlichen politischen Überzeugungen und Vorstellungen zu stellen, um eine Regierungsbeteiligung des RN zu verhindern. Aber die Ergebnisse zeigen, dass die Strategie des »Gegenwählens« endgültig ausgereizt ist. Zusätzlich ist Macrons Bewegung zu stark an seine eigene Person gebunden, die Vision ohne ihn weiter voranzutreiben stellt eine große Herausforderung dar. In der Wahl des jungen Gabriel Attal aus dem eigenen Lager zum Premierminister lag auch die Absicht, einen Nachfolger vorzubereiten, der die Vision der Macronie weiterführt, nachdem Macron bei den Wahlen 2027 nicht mehr antreten wird. Dieser Versuch wird nun ausgebremst und es muss sich zeigen, ob die Bündnisse pragmatisch mit der Situation und einander umgehen und regieren können, oder ob Frankreich mittelfristig in eine souveränistisch-nationalistische Debatte verfallen wird und sich damit nicht nur die politische Instabilität erhöht, sondern auch Handlungsunfähigkeit bis hin zu Rückschritten in der nationalen und europäischen Entwicklung herbeigeführt und der Zerfall der Demokratie vorangetrieben werden.
Wenn sich der politische Kurs weiter nach rechts- oder linksaußen verschiebt, schwindet die Hoffnung für eine auf Konsens ausgerichtete Europapolitik. Ein starkes Europa benötigt sowohl ein starkes Frankreich als auch ein starkes Deutschland, jedoch nicht einzeln für sich, sondern in einer funktionierenden Partnerschaft, um weiterhin als Antriebskraft für ein geeintes Europa agieren zu können. Dazu benötigt es Verständnis und Kompromiss. Ein Umdenken im Führungsstil in Frankreich kann dazu beitragen.

Der Olympische Gedanke
Sei es zu Propagandazwecken, Mittel zur Wahlwerbung, Instrument der Sanktionen gegen Nationen, die gegen das Völkerrecht verstoßen, oder ein klares Zeichen für Inklusion: Sport ist Politik. Und er wird von allen Seiten eingesetzt.
Es war der Franzose Pierre de Coubertin, der Ende des 19. Jhs. die Olympische Idee wieder aufleben ließ und die Spiele der Neuzeit ins Leben rief, um eine globale Veranstaltung zu schaffen, die dem Frieden und der Völkerverständigung dienen sollte. Ein sportliches Miteinander, das über geographische Grenzen und Kulturunterschiede hinaus die Welt einen sollte. Bis heute wird die Organisation von einem Olympischen Komitee, dem International Olympic Committee (IOC) übernommen, das unabhängig von staatlich-politischen Einflüssen, aus privaten Mitteln finanziert, arbeitet.
2024 kehrten die Spiele nach Frankreich zurück und wurden im Voraus von vielen Seiten kritisiert und es wurde als unmöglich bezeichnet, aus einer Stadt wie Paris eine Sportstätte und einen Begegnungsort dieses Ausmaßes zu machen. Die Öffentlichkeit war sich zumindest in Frankreich einig: »organisatorische Katastrophe«, »nicht ausreichend Platz«, »Irrsinn, die Sportler dem schmutzigen Seine-Wasser auszusetzen«, usw.
Die Olympischen Spiele galten auch als Ruhe vor dem Sturm, da die Regierungsbildung in dieser Zeit auf Stand-by stand. Damit sollte Zeit gewonnen werden, aber für einen Moment lang auch durchgeatmet. Die Bevölkerung empfand es zu großen Teilen als ein Zeitschinden. Wenn der Gedanke jedoch weiterentwickelt und die Olympische Idee auch über die Spiele hinausgetragen würde, könnten alle über den Sport hinaus davon profitieren.
Um eine optimale Organisation der Spiele in Paris zu erreichen, haben alle an einem Strang gezogen und sonstige Differenzen beigelegt. Das Ergebnis war überragend.
Wettbewerb und Diskussionen gehören zu einer Kooperation dazu, bedeuten aber nicht das gegenseitige Behindern. Gerade die Franzosen sollten sich auf ihr eigenes Konzept der Olympischen Philosophie stützen, einhergehend mit dem französischen Leitgedanken Liberté, Egalité, Fraternité (dt. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) und basierend auf gegenseitigem Respekt und einer funktionierenden Zusammenarbeit auch zwischen unterschiedlichen politschen Lagern, um labile Verhältnisse zu minimieren, einen radikalen Wandel und damit ein weiteres Erstarken rechts- oder linksextremen Kräften zu verhindern, die die Demokratie des Landes in Gefahr bringen.

Um eine erneute Revolution innerhalb der Gesellschaft abzuwenden, besteht die Notwendigkeit zur Veränderung und es muss darüber nachgedacht werden, wie die Wählenden wieder verstärkt in das politische Geschehen einbezogen werden können und wie auf ihre Forderungen reagiert werden sollte Die Verfassung bietet dafür durchaus Mittel und Wege, wenn sie umgenutzt, anders interpretiert wird und sich damit wieder ein Stück von der Autokratie entfernt und den Dialog bzw. mehr Interaktion mit der Bevölkerung herstellt.
Die Bürgerschaft einzubeziehen ist ein klares Mittel der direkten Demokratie, bedeutet jedoch nicht automatisch, Referenden zu allen Gesetzesvorhaben abzuhalten. Die Behörden und politischen Organisationen bieten derzeit kaum öffentliche Räume für Austausch und Diskussion. Hier wäre eine Änderung durchaus denkbar und eine erste Umsetzung auf lokaler Ebene mittelfristig möglich, um zu zeigen, dass den Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Gehör verliehen wird und sich Politik und Gesellschaft damit wieder einen Schritt annähern, die Skepsis gegenüber dem System verringert werden kann. Sollten die Franzosen jedoch die Wahl radikaler Parteien als einzige Option begreifen, stehen sowohl Frankreich als auch Europa sehr schwierige Zeiten bevor.
Dennoch wäre es zu früh, die Macronie zum jetzigen Zeitpunkt als gescheitert anzusehen. Ob sich der amtierende Präsident wirklich verkalkuliert hat, oder ob die Situation das Risiko seines Vorgehens erfordert, wird sich in den kommenden Monaten und letztlich im Zuge der nächsten Präsidentschaftswahlen zeigen.
Sicher ist jedoch: Eine Vision allein ist nicht ausreichend. Es sind weiterhin kreative Lösungen gefragt, um eine funktionierende Regierungsarbeit zu ermöglichen, die Demokratie dabei jedoch nicht aus den Augen zu verlieren. Das beinhaltet nicht nur einen technokratischen Funktionalismus, sondern es müssen Antworten auf die soziale Frage geboten werden, es muss zugehört, analysiert und darauf reagiert werden, was die Bevölkerung ausdrückt mit Protesten und Wahlergebnissen ausdrückt. Um ihr Überleben und eine Weiterentwicklung muss die Macronie über ihre durchaus fortschrittlichen Grundideen hinaus sowohl Ergebnisse liefern können als auch das Verhältnis von Staat und Politik zu den Bürgerinnen und Bürgern das Landes wieder in Einklang bringen, um Frankreich als stabilen Partner innerhalb eines modernisierten und vereinten und damit eigenständigeren Europas weiterzuentwickeln, zu stärken und die Zeitenwende gemeinsam voranzutreiben. Diese Aufgaben müssen angesichts des aktuellen gesellschaftlichen und geopolitischen Kontextes mit höchster Priorität behandelt werden.