Ein Gastbeitrag von Philipp Sandmann
Im Ausland wird Deutschland manchmal noch so gesehen, wie Deutschland mal war. Effizient, schnell, erfolgreich. Diese Erfahrung mache ich gerade in den USA in meinen Gesprächen mit Studenten, Professoren und Botschaftern. Doch dieses Deutschland, das die Welt einst so bewunderte, das hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert – und so langsam kommt das auch in Washington D.C. an.
Was in nur zehn Jahren passieren kann, das ist doch bemerkenswert. Nehmen wir das Jahr 2014 als Beispiel: Da war Deutschland nicht nur im Fußball Weltmeister, sondern auch in puncto Wirtschaft. Dieser Erfolg, der maßgeblich mit unserer gesunden Industrie zusammenhing, hatte natürlich Auswirkungen auf unser Gewicht in der Außenpolitik: Was kann man an einer großen Wirtschaftsmacht wie Deutschland schon kritisieren, wenn alles so rund läuft? Man kann es auch so sagen: Deutschlands hohes Ansehen war nicht unbedingt darin begründet, dass es außenpolitisch so genial agierte, sondern basierte eher darauf, dass das Land ein gutes Geschäftsmodell hatte.
Das ist – natürlich – eine etwas vereinfachte Zusammenfassung. Doch ich denke, dass meine Analyse ziemlich nah an der Realität liegt. Und so eine Art von Außenpolitik funktioniert eben nur so lange, bis das Geschäftsmodell anfängt zu bröckeln. Vor allem wird alles auf die Probe gestellt, wenn ein externer Schock das System in Frage stellt. Dieser Schock war Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er hat zwei Dinge für Deutschland grundlegend verändert. Erstens, Deutschland musste sich eingestehen, dass es zu wenig in seine eigenen Verteidigungskapazitäten, die NATO und die Bundeswehr investiert hatte. Zweitens, die Annahme, dass Russland auf lange Sicht ein verlässlicher Partner sein würde, löste sich in Luft auf.
Ich habe in der Vergangenheit den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck zitiert und tue es an dieser Stelle wieder, da er einer der wenigen war, der bereits im Jahr 2014 vor so einer Situation gewarnt hatte. Vor zwei Jahren sagte Gauck mit Blick auf das Verhältnis zu Russland in einem Interview, das ich mit ihm führen konnte:
»Es gibt in Deutschland ein Wunschdenken, das weit über die Sozialdemokratie hinausgeht: Wenn wir den Gegner nur freundlich genug anschauen, dann reagiert der auch inentsprechender Weise. Man hat diese Andersartigkeit des Gegenübers nicht erkannt. Man wollte auch nicht Feindschaft wahrnehmen, wo schon Feindschaft existierte.«

Unsere Probleme sind tiefgreifender
Nun soll dieser Text aber nicht nur in die Vergangenheit blicken, sondern natürlich auch in die Zukunft. Diese Zukunft birgt enorme Chancen für Deutschland, aber wir sollten uns auch im Klaren darüber sein, dass die Herausforderungen groß sind. Was in Deutschland noch nicht so richtig angekommen ist: Es wäre ja wirklich der einfachste Trick der Welt, wenn man nur die vermeintlichen Fehler der Ampel-Regierung der vergangenen drei Jahre zurückdrehen müsste, und schon würde unsere Wirtschaft wieder anfangen zu brummen. Leider ist die Lage ernster und die Probleme tiefer verankert. Denn neben dem Ende des billigen russischen Gases, das unsere Industrie so lange so wettbewerbsfähig hielt, haben sich auch die Bedürfnisse der Menschen weltweit verändert. Mit anderen Worten: Es ist vollkommen unklar, ob unsere Autoindustrie noch die Autos bauen kann, die in Zukunft auch gebraucht und gerne gekauft werden.
Hinzu kommt, dass es seit ein paar Wochen in den USA einen neuen (und alten) Präsidenten gibt, der es für Deutschland in den nächsten Jahren nicht unbedingt leichter machen wird. Hinter verschlossenen Türen wird hier in Washington D.C. gesagt, dass Trump es sogar ganz besonders auf Deutschland und seinen Exportüberschuss abgesehen hat.
Was nun…?
Kommen wir also zu der Frage: Was nun, liebes Deutschland? Der CDU-Chef und Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, hat es in seiner außenpolitischen Grundsatzrede bei der Körber Stiftung vor ein paar Wochen ganz treffend formuliert:
»Wenn wir auf Augenhöhe in Washington ernst genommen werden wollen, dann müssen wir uns als Europäer selbst in die Lage bringen, etwa Verantwortung für unsere Sicherheit zu übernehmen.«

Ich bin froh, dass Merz in diesem Kontext europäisch argumentiert hat, und nicht nur auf nationaler Ebene. Denn im Erfolg der Europäischen Union liegt auch der außenpolitische und wirtschaftliche Erfolg Deutschlands. Deswegen gelten für eine moderne Außenpolitik meiner Meinung nach drei Punkte.
Erstens, Deutschland muss die Europäische Union aktiver stärken. Dafür muss Deutschland eine Schlüsselrolle einnehmen, und zwar, auch wenn es darum geht, Dinge anzusprechen, die nicht funktionieren. Das gilt z.B. für das Thema Migration: Hier braucht es Abkommen zwischen europäischen Ländern, um die Verteilung von Flüchtlingen besser zu organisieren. Deutschland sollte ein funktionierendes europäisches Asyl- und Verteilungssystem zu einer seiner Hauptprioritäten machen. Scheitern wir in diesem Punkt, dann scheitert irgendwann der ganze Gedanke der Europäischen Union mit seiner Reisefreizügigkeit und dem Freihandel. Zu all dem gehört auch: Bevor Deutschland sich auf der Weltbühne seinen Respekt zurückerarbeiten kann, muss es erstmal in Europa wieder eine echte und glaubwürdige Führungsrolle einnehmen.
Zweitens, solange Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, muss die Ukraine unterstützt werden. Das Land muss die Waffen bekommen, die es braucht. Und in der Unterstützung der Ukraine liegt auch ein Schlüssel für unser eigenes Denken beim Thema Verteidigungsfähigkeit. Wir müssen — und da war die »Zeitenwende« von Bundeskanzler Olaf Scholz ein guter Anfang — auch verstehen, dass wir in einer Welt leben, in der eine mittlere Macht wie Deutschland zwangsläufig eine gut ausgestattete und moderne Bundeswehr braucht.
Und drittens, wir brauchen ein neues Geschäftsmodell. Dieses Geschäftsmodell kann nicht mehr nur allein auf unserer Auto- und Zuliefererindustrie basieren, sondern wir müssen auch bei den Technologien der Zukunft (z.B. bei erneuerbaren Energien) eine führende Rolle einnehmen. Investitionen in erneuerbare Energien sind nicht nur für den Klimaschutz wichtig, sondern auch deswegen so entscheidend, weil sie zwangsläufig die Technologien der Zukunft sind. An ihnen hängt, ob wir Geld verdienen oder nicht. Dazu braucht es das Verständnis, dass die sogenannte »Gleichzeitigkeit« möglich sein muss. Mit anderen Worten: Es muss erlaubt sein, an alten Technologien festzuhalten und trotzdem in die Technologien der Zukunft zu investieren. Ein kluger Übergang ist hier der Schlüssel.
Dazu braucht es auch mehr Flexibilität in den Parteien: Ein moderner Konservatismus darf bedeuten, dass man Klima und Natur schützt. Und eine moderne grüne Politik darf bedeuten, dass man Energien zur Verfügung stellt (z.B. Atomkraft), die uns unabhängig machen und gleichzeitig das Klima schützen.
Langfristiger denken!
Deutschland steht vor einer Bundestagswahl und vor richtungsweisenden Entscheidungen. Die nächsten Jahre sollten davon geprägt sein, kluge Entscheidungen zu treffen. Das kann (und muss womöglich) auch beinhalten, dass eine (evtl.) von der CDU angeführte Bundesregierung nicht gleich alles zurückdreht, was die Ampel-Regierung beschlossen hat. Ständige 180-Grad-Wendungen tun unserem Land nicht gut!
Die neue deutsche Außenpolitik in einer Zeit mit Donald Trump und den sich verändernden transatlantischen Beziehungen, sie bedeutet: Deutschland und Europa dürfen mutig in die Zukunft schauen. Denn letztlich bleibt uns gar nichts anderes übrig.

Philipp Sandmann
Autor
Philipp Sandmann war für vier Jahre politischer Korrespondent bei dem Fernsehsender RTL/ntv in Berlin und hat dort die Sendung „Frühstart“ mitgegründet und moderiert. Davor arbeitete Sandmann für die Politikredaktion der BILD-Zeitung. Seit August 2023 lebt er in den USA und absolviert dort ein Master-Studium an der Georgetown Universität im Fach „Foreign Service“ und spezialisiert sich auf das Thema Migration. Jeden Sonntag erscheint sein politischer Newsletter „Gedanken aus Washington D.C.“